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Walther Streffer

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Nr 170 | Februar 2014

Zum 450. Todestag Michelangelos am 18. Februar 2014

Schon früh zeigte sich im Leben Michelangelos (1475 – 1564), dass er den Meistern des klassischen Altertums ebenbürtig war, ohne diese nachzuahmen. Und so wie der Strom aus der Ver­gangen­heit den jungen Bildhauer machtvoll impulsierte, so ver­körperte Michelangelo als größter Bildhauer Italiens die Gegenwart des Renaissancemenschen. Während seine philosophischen Lehr­meister Marcilio Ficino, Angelo Poliziano und Pico della Mirandola eine Synthese zwischen dem platonischen Gedankengut und der christlichen Offenbarung vom göttlichen Ursprung der Welt und des Menschen anstrebten, war dieser Prozess bei Michelangelo vor allem künstlerisch-praktischer Natur, hatte er doch in früher Jugend reichlich Gelegenheit, im Medici-Palast wie auch im Skulpturen­garten von San Marco, die reiche Sammlung antiker Statuen zu studieren. Darüber hinaus erleben wir den Künstlergenius, der in eine ferne Zukunft weist. Dazu zwei Beispiele aus dem Decken­fresko der Sixtinischen Kapelle in Rom:
Schon in seinen frühen Werken (Kentaurenschlacht, David, Schlacht von Cascina) offenbart Michelangelo ein Kunstprinzip, das Lessing und Goethe später am Beispiel der Laookon-Gruppe beschrieben haben, dass nämlich ein großes Kunstwerk dem Betrachter sowohl das Vorhergehende als auch das Nachfolgende offenbaren müsse. Dieser transitorische Augenblick (oder vorübergehende Moment) ist es, der in uns ein Vorher und ein Nachher zu erzeugen vermag, das heißt der Betrachter wird in den Schaffensprozess mit einbezogen. Ferner scheinen mehrere Plastiken Michelangelos (z. B. die Sklaven oder die Gestalten der Medici-Kapelle in Florenz) aus künstlerischer Absicht unvollendet geblieben zu sein, wodurch dem Betrachter ebenfalls ein bedeutsames Maß an Eigenaktivität abverlangt wird. Das non-finito war zwar noch kein Kunstprinzip, aber Michelangelo hat zumindest mit verschiedenen Graden des Unfertigen bewusst gearbeitet. Ein Wandel im Kunstgeschmack seiner Zeit kam dem Künstlergenius entgegen. Durch die aufkommende Begeisterung für die antiken Statuen begannen die Menschen der Renaissance die Vollkommenheit der menschlichen Gestalt auch in jenen Plastiken zu bewundern, die beschädigt waren, so dass auch die von Michelangelo nicht zu Ende geführten Werke als vollendet-schön erlebt werden konnten. Durch ihn trat die Idee des Kunst­werks, nicht nur dessen Ausführung, ins allgemeine Bewusst­sein. Und das gesteigerte Interesse für den Entstehungsprozess spiegelte sich auch in der Wertschätzung der Entwürfe.
Ein anderes Thema ist das Aufrichtungsmotiv, wodurch der Mensch zum Gegenüber der Gottheit werden kann. Es ist in der Sixtinischen Kapelle rund um den Propheten Jona wahrzunehmen (Aufrichtung der Ehernen Schlange, Bestrafung Hamans und bei dem Adam ähnlichen Ignudo, der vom Schöpfer im ersten Genesisbild angeschaut wird) wie auch deutlich beim Propheten Ezechiel, während es bei einigen Ignudi mehr Aufrichtungsversuche sind. Die Darstellung des sich aufrichtenden Menschen wird heute umso aktueller, weil seit wenigen Jahrzehnten innerhalb der anthropologischen Wissenschaft ein deutlicher Paradigmenwechsel stattfindet: Alle Ur- und Vormenschen, die über den aufrechten Gang verfügten, werden heute, unabhängig von Alter und Kopfform, zunehmend als echte Menschen betrachtet. Und zudem werden alle Besucher auch aufgrund der Höhe des Deckenfreskos sowohl in den Schaffens- als auch Aufrichtungsprozess mit einbezogen, weil sie nach oben schauen, sich also verstärkt aufrichten müssen.

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