Henning Kullak-Ublick im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Bildung, warum?

Nr 171 | März 2014

Lernen Kinder heute eigentlich genug? Was werden sie später im Leben davon brauchen angesichts des rasanten Tempos unserer technischen Entwicklung? Niemand kann das genau sagen, auch keine OECD mit ihren Schulleistungsuntersuchungen (Pisa-Studie). Deshalb ist die Antwort: Eine grundlegende umfassende Bildung ist die beste Voraussetzung für die Zukunft des Kindes. Wenn Kinder und Jugendliche Lernen als positiven Prozess erfahren, weil von ihren Fähigkeiten und Interessen ausgegangen wird, werden sie auch als Erwachsene bereit sein zu lernen. Für Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, ist deshalb ein schöpferischer Unterricht zentral, nicht ein fest vorgegebener Lehrplan. Freie Schulen wie Waldorfschulen und Montessori-Schulen sind staatlich anerkannt und bieten auch Schulabschlüsse wie das Abitur. Statt auf einen starren Lehrplan und eine Vielzahl von Tests und Benotungen ab Beginn der Schulzeit setzen sie auf kreative, flexible Unterrichtsinhalte und -methoden, auf Lernen im vertrauten Rahmen einer Klassengemeinschaft (ohne Sitzenbleiben) und Lehrerinnen und Lehrer, die mit Engagement an diesem Konzept arbeiten. «Jedes Kind ein Könner» – diesen Titel trägt das am 5. März erscheinende Buch von Henning Kullak-Ublick, und er hat genau das in den vielen Jahren, in denen er als Lehrer tätig war, immer wieder mit Freude und Begeisterung erlebt.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Kullak-Ublick, was verstehen Sie unter Bildung?
Henning Kullak-Ublick | Im Wort Bildung steckt das Wort «Bild» und auch, dass sich etwas «heraus-bildet» – so kann ich meine Muskeln, meinen Körper durch Übungen bilden, aber auch meinen Geist, wenn ich andere Sprachen lerne, fremde Kulturen kennenlerne und meine Wahrnehmungsfähigkeit schule, indem ich etwas künstlerisch gestalte. Bildung hat etwas mit Entwicklung zu tun, ist niemals starr. Heute neigt man leider dazu, den Begriff Bildung auf abfragbares Wissen zu verengen, dessen Inhalt irgendwo am grünen Tisch ersonnen worden ist. Bildung bezieht sich aber auf den ganzen Menschen. Sie schließt sein Allgemeinwissen und seine Persönlichkeit ein – also seine Fähigkeiten zu denken, aber auch zu fühlen und zu handeln. Was nützt alles Wissen der Welt, wenn man nicht gelernt hat, etwas Sinnvolles damit zu machen? Bildung ist vielschichtig und niemals abgeschlossen. Deswegen kommt es für jeden einzelnen Menschen sehr darauf an, ob er in der Schule erlebt, dass Bildung wirklich etwas mit dem Leben zu tun hat, oder ob sie nur ein Wiederkäuen von längst fertigem Wissen ist.

DKM | Im Zusammenhang mit Schule taucht der Begriff «Bildung» mit immer wieder neuen «Bildungsplänen» auf, die festlegen, was in welchem Schuljahr gelehrt und gelernt wird. Sogar für Kinder­gärten gibt es inzwischen Bildungspläne.
HKU | Natürlich ist eine pädagogische Vereinbarung sinnvoll, auch über die Qualität der Lehrerausbildung, was Kinder mindestens können sollten, um sich in unserer Zeit zurechtzufinden. Hinter starren Bildungsplänen oder einheitlichen Bildungsstandards steht aber die Vorstellung, dass Kinder vor allem ein genormtes und mess­bares Wissen brauchen, um im Leben klarzukommen. Für eine Schraube ist eine DIN-Norm ja bestens geeignet, aber Menschen sind nun einmal sehr viel komplexere Wesen als Maschinen. Heute geht es doch um etwas ganz anderes: Je mehr die Kinder befähigt werden, selbst Erkenntnisse zu bilden und Lösungs­strategien für Probleme zu entwickeln, umso lebenstüchtiger werden sie. Fertiges Wissen kann man sich heute aus jedem Smart-phone herunterziehen – aber um dieses Wissen auch einzuordnen und fruchtbar zu machen, muss man Beziehungen herstellen und es mit dem persönlichen Leben verbinden können. Hinter all den Bildungs­standards und Sicherheitssystemen in Form von Unter­suchungen und Tests steht ein tiefes Misstrauen in die Lernbe­reitschaft des Menschen. Aber Kinder wollen lernen, wenn man es ihnen nicht austreibt – und das Wichtigste beim Lernen, nämlich das Interesse an der Welt, kann man nicht messen, man muss es wecken.

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DKM | Der Alltag – und das Familienleben – vieler Kinder und Jugendlicher wird heute oft geprägt durch Lernen für Tests; auch ihre mündliche Leistung wird in fast jeder Schulstunde bewertet. Wie wir uns fühlen würden, wenn wir bei unserer Arbeit ständig bewertet würden …? Selbst der Vorsitzende des Deutschen Lehrer­verbandes, Josef Kraus, spricht von einer «Testeritis».
HKU | Tatsächlich findet im deutschen Schulsystem durch diese ganzen Tests und wegen unseres gegliederten Schulsystems eine viel zu frühe Festlegung der Schulkarriere statt, auch im europäischen Vergleich. Manche Kinder kommen gut mit diesem auf Selektion ausgelegten System zurecht, aber für viele ist es demotivierend. Ein bisschen Stress schadet niemandem, aber was für ein Sinn liegt darin, eine ganze Generation darauf abzurichten? Wenn die Kinder allerdings erleben, dass vieles, was in der Schule passiert, durch sich selbst oder für das Gelingen des Ganzen wichtig ist – und nicht, weil es Noten dafür gibt oder irgendwelche Pläne erfüllt werden müssen –, dann werden sie unterm Strich gerne in die Schule gehen und gerne lernen. Wir sollten sehr gründlich darüber nachdenken, wie wir echte Bildung wieder zu einem Thema unserer Gesellschaft machen. Was bedeutet Lernen im 21. Jahrhundert? Wie können Kinder sich das aneignen, was nötig ist, damit sie ihr Leben selbstständig und verantwortungsvoll gestalten können? Und wie lerne ich, lebenslang zu lernen?

DKM | Und – was ist entscheidend dafür?
HKU | Es gibt eine sehr interessante länderübergreifende Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, der 15 Jahre lang der Frage nachging, welche Faktoren Lernen erfolgreich machen und welche nicht. Hattie wertete dabei 50.000 Einzelstudien aus, an denen mehr als 250 Millionen Schüler beteiligt waren. Von den 138 Einflussfaktoren, die er ausmachen konnte, kristallisierte sich genau einer als der in allen Untersuchungen wichtigste heraus: Für den Lernerfolg ist die Persönlichkeit des Lehrers entscheidend. Es klappt, wenn er sich als eine Art Regisseur in seiner Klasse versteht, seinen Unterricht auch mit den Augen der Kinder sehen kann (und nicht ihre Schwächen für alles verantwortlich macht) und eine echte Beziehung zu ihnen aufbaut. Wenn Kinder erleben, dass sich ihre Lehrerinnen und Lehrer für sie interessieren, wenn diese Lehrer wissen, was sie wollen, sich selbst für den Unterrichts­stoff begeistern und den Unterricht schöpferisch und methodisch kreativ entwickeln, muss man nicht künstlich über Motivation nachdenken. Die Kinder merken schon, wenn es um etwas Wichtiges geht, und gehen gerne auf eine gemeinsame Ent­deckungs­reise mit ihrem Lehrer, sei es, um den Satz des Pythagoras zu verstehen oder Goethes Faust zu ergründen.

DKM | Im Schulsystem erleben Eltern immer wieder Reformen, die nach einigen Jahren wieder zurückgenommen oder relativiert werden. Die Pisa-Studie wird inzwischen von manchen Experten als pädagogisch fragwürdiges Großexperiment gesehen. Gibt es eine Alternative?
HKU | Das Gute an Pisa war, dass es Bildung überhaupt wieder zum Thema gemacht hat. Allerdings stehen massive wirtschaftliche Interessen hinter diesem ganzen Konzept der normierten Verein­heitlichung, die aus meiner Sicht nicht nur unpädagogisch, sondern wirklich gefährlich sind. Es sollte uns schon zu denken geben, dass in den neuesten Pisa-Vergleichsstudien ausgerechnet all jene Länder ganz oben im Ranking stehen, in denen gepaukt, gepaukt, gepaukt wird und Kindheit zum Fremdwort geworden ist. China steht mit seinem wirklich rigorosen Schulsystem an Platz 1, und das ist kein Zufall, sondern zeigt, was Pisa eigentlich misst. Hierzulande wurden im staatlichen Schulsystem aber nach «Pisa 1» auch viele positive Entwicklungen vorangebracht. Viele wirklich engagierte Lehrerinnen und Lehrer hatten und haben den Mut, für neue Ideen einzustehen. Nicht wenige dieser Ideen (wie mehr Selbstständigkeit für die einzelne Schule) wurden allerdings zuerst an freien Schulen entwickelt. In Deutschland gibt es ja das grundgesetzlich garantierte Recht, eine Schule in freier Trägerschaft, also eine freie Schule, zu gründen, wenn die dort tätigen Lehrer eine mindestens gleichwertige Ausbildung zu den Kollegen an staatlichen Schulen durchlaufen haben. Ein Haken daran ist allerdings, dass die Schulgesetze der Länder die Eltern zwingen, Schulgeld zu bezahlen, wenn sie sich mit ihren Kindern für eine freie Schule entscheiden. Die freien Schulen bekommen ja nur einen Teil ihrer Kosten erstattet, sodass die Eltern über die Steuern, mit denen sie auch die staat­lichen Schulen finanzieren, doppelt zur Kasse gebeten werden. Das macht es natürlich schwerer, Alternativen zum staatlichen Schulsystem aufzubauen, und das ist politisch auch so gewollt. Dieses «Lösegeld» hindert einkommensschwache Familien leider oft an der Entscheidung für eine freie Schule. Die meisten Waldorfschulen bilden daher Solidargemeinschaften, in denen besser verdienende Eltern sich an den Schulkosten für Kinder aus ärmeren Familien beteiligen. Solange die Existenzgarantie für freie Schulen sich nicht auch ganz praktisch in den Schulgesetzen in Form von gleichberechtigter finanzieller Ausstattung der freien Schulen niederschlägt, ist die Schul-Wahlfreiheit nicht gegeben.

DKM | Wie stellen Sie sich die ideale Schullandschaft der Zukunft vor?
HKU | Pädagogisch wünsche ich mir Schulen, in denen die Kinder und Jugendlichen viele Erfahrungs­räume vorfinden, innerhalb derer sie finden, was sie für ihre Entwicklung brauchen und in denen sie gefordert werden. Dazu gehören neben den klassischen Fächern auch die Kunst, das Handwerk, schöne Schulgärten und Begegnungs­flächen, die nicht nur einen Zweck erfüllen, sondern einfach zum Verweilen einladen. Ich wünsche mir Schulen, in denen die Schüler sich gegenseitig wahrnehmen, helfen, anfeuern. Dazu muss die Schule sich als einen Ort des seelischen und geistigen Wachstums für alle verstehen. Selektion hat hier nichts zu suchen, sondern individuelle Förderung und Herausforderung zum praktischen Leben. Ich wünsche mir eine Lehrerbildung, in der das kreative Potenzial und die Persönlichkeiten der jungen Lehrerinnen und Lehrer gestärkt werden und sie den Mut zur Verantwortungs­übernahme bekommen. Und ich wünsche mir Eltern, die das politisch einfordern. Im Bildungs­wesen ist Planwirtschaft kein Erfolgsrezept, deshalb bleiben freie Schulen, die sich aus dem Engagement von Eltern und Pädagogen entwickeln, weiter notwendig. Erziehung ist in erster Linie Sache der Eltern, ein hohes Gut! Der Staat soll – wie in anderen Bereichen auch – dafür sorgen, dass Eltern von ihren Wahlmöglichkeiten Gebrauch machen können und die Schulen gut ausgestattet sind.