Doris Kleinau-Metzler

Handarbeiten umgarnen – wieder

Nr 171 | März 2014

Warum selber machen? Man kann doch heutzutage alles kaufen, Kleider, Jacken, Pullover. Ist gar nicht so teuer und geht einfach und schnell, auch per Internet. Nur: Warum soll alles schnell und einfach gehen? Wer wünscht sich nicht immer mal wieder mehr Ruhe und Muße? Muße für das, was Freude macht, einfach so. Zeit, um zu schauen, was sich daraus entwickelt. Selbst etwas gestalten, mit den eigenen Händen, nach dem eigenen Geschmack.
«Ich finde es schön, Handarbeiten zu machen. Es entspannt, abends zu Hause zu sitzen, zu stricken, zu nähen; man kommt zur Ruhe. Der Seele tut es gut. Und die Ideen, die man beim Nähen oder Stricken entwickeln kann …!» Ruth Sebert, die mit ihren rötlich schimmernden hochgesteckten Haaren und dem schwarzen Outfit eine zeitlose Eleganz ausstrahlt, kommt ins Schwärmen. «Ich liebe Farben und schöne Naturmaterialien. Bei Fertiggekauftem liegt alles abgeschlossen vor mir, aber hier beim Nähen entsteht etwas Neues – und wird manchmal ganz anders, als ich es mir anfangs vorgestellt habe.» Die Jacke, an der sie nach einem besonderen Schnitt arbeitet, wird auf jeden Fall etwas Exquisites, sogar etwas ganz und gar Einmaliges, denn sie ist zusammengesetzt aus Stoffresten, die sie aus anderen Näharbeiten übrig hatte. Schimmernder Samt, prächtige Blüten auf glänzendem Stoff, seidiges Schwarz.
Seit zwei Jahren ist Ruth Sebert regelmäßig «Kundin» im Nähcafé Quernaht. Hier an dem übergroßen Tisch ist Platz zum Zu­schneiden, vor allem aber steht die Nähcafé-Gründerin Heike Bühring ihr bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite. Vor zwei Jahren gründete sie in Randlage des Städtchens Ober-Roden (bei Frankfurt am Main) das Nähcafé; hinter den großen Glasfenstern des Neubaus war vorher ein Buchladen. Landauf, landab entstehen Näh- und Strickcafés. Orte, an denen man zum gemeinsamen Nähen und Stricken zusammenkommen kann – und vor allen Dingen auch fachkundige Unterstützung erhält.

Mit ihrem Nähcafé hat sich Heike Bühring einen Traum erfüllt. «Ich war eigentlich ein richtiger Büromensch, aber irgendwann war das unbefriedigend. Dann habe ich autodidaktisch mit dem Nähen angefangen.» Ihr Traum bekam handfeste Grundlagen, denn aus der Anfängerin ist eine Fachfrau geworden, die seit Jahren Nähkurse in Stoffgeschäften und Nähzentren gibt, vermittelt über eine Kreativ-Agentur.
Die Überwindung einer Lebenskrise gab dann den entscheidenden Gründungsimpuls: «Wann, wenn nicht jetzt?» Hier ist ihr eigenes Reich: Die gemütliche Sofa-Sesselrunde, der alte antike Schrank, nicht zuletzt die mit den besonderen Kleidungstücken (aus ihrem eigenen Kleiderschrank) dekorierten weißen Schneiderpuppen. Und erst die um die Kasse herum aufgebaute Pracht von Knöpfen, Schnallen, Applikationen – ein 1001-Nacht-Traum: Knöpfe, umhäkelt mit pastellfarbenem Garn, zarten Blütenblättern gleich, lustige bunte Ballknöpfe, Knopf­scheiben in schwarz-weißem Pepita-Look, Blüten aus duftigem Tüll, rote Rosen aus edlem Taft, Glitzerndes in Strass und Perlen, Applikationen aus Filz … märchenhafte Träume für verzauberte Kleider könnten wahr werden!
Heike Bühring lacht (und gelacht wird hier gerne): «Ja, ich liebe das Individuelle, Kreative. Wenn ich einen besonders schönen Stoff finde, sehe ich meinen neuen Mantel oder Rock direkt vor mir – und kann für Stunden in meinem Arbeitszimmer verschwinden, bis das gute Stück fertig ist.» Ist ihr wichtig, was gerade modern ist? «Sicher ändern wir unseren Geschmack mit der Mode; wenn ich Fotos von mir von vor 30 Jahren sehe, finde ich mich darauf schrecklich angezogen. Aber mich faszinieren Frauen oder Männer, die authentisch angezogen sind, so, dass es zu ihrem Typ passt. Das muss nicht teuer oder nach der neuesten Mode sein.» Ja, die Zeitschriften mit den «bunten Bildern», wie sie die Modejournale nennt, die auch hier zur Orientierung ausliegen, geben etwas vor. «Wenn man heute in ein Großstadt-Café geht, sieht man nur Kleidung der bekannten Marken bei den Damen. Ob man in Hamburg oder Frankfurt einkauft, es ist egal, alles ist gleich.»
Dann doch lieber selber etwas nähen, was durchaus nicht unmodisch ist – aber eben individuell. Sie weiß noch, wie man vor Jahren schief angesehen wurde, wenn man zu erkennen gab, dass das schöne Stück selbst genäht sei; doch der Wind hat sich inzwischen gedreht. Deshalb ist die Warteliste für die festen Kurse im Nähcafé, die am Vormittag oder Abend für drei Stunden stattfinden, auch lang.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Inzwischen geht in der Quernaht die freie Nachmittags­öffnungszeit für Jedermann/Jedefrau in den Abendkurs über und neue Damen erscheinen, versehen mit einem Korb ihrer Nähprojekte. Also keine Anfängerinnen. Christine Menrad näht an einem zweifarbigen Sweatshirt-Kleid für ihre Tochter, grün und orange, mit einer Eulen-Applikation. «Früher hat man genäht, um Geld zu sparen, heute ist so etwas Selbstge­nähtes ein Highlight, auch bei den Kindern. Man hat so Vorstellungen im Kopf und kann solche Sachen gar nicht kaufen.» Es fing für sie mit den Faschingskostümen an, die getackert oder geklebt waren – doch jetzt näht sie gekonnt nach dem Motto: «Einfach und gut – und am liebsten an der Nähmaschine; da sieht man schnell das Resultat. Die Vorarbeiten dauern am längsten; es ist nicht einfach, den Schnitt zu machen, dann zuschneiden, stecken, heften.»
Heike Bühring unterstützt je nach Bedarf; über die langweiligen Phasen hilft der Plausch mit der Näherin nebenan, und eine feste Pause ist obligatorisch. – Ja, Pausen sind wichtig wie manche anderen Rituale, besonders für die Kinder der Kids-Kurse und jungen Damen: So gibt es nach dem Ende eines dreitägigen Ferienkurses oder eines Samstags-Workshops ein Gruppenfoto mit den genähten Werken, dazu eine Urkunde für jede Teilnehmerin und ein Schokobrötchen vom Bäcker um die Ecke mit Apfelsaftschorle. «Und keine fängt an zu essen, bevor nicht alle fertig sind mit ihrer Näherei!» Das handhaben auch die sechs Mädchen ähnlich, die den
13. Geburtstag von Kim hier nähend feiern – samt Kuchenversorgung durch die Mutter. Kim hat zum Geburtstag eine eigene Nähmaschine geschenkt bekommen, die sie heute mitgebracht und an einen freien Platz neben die acht Nähmaschinen des Nähcafés Quernaht gestellt hat. Sie und ihre Freundinnen Angelina, Celine, Carolin, Hannah und Lena wollen einen Loop-Schal nähen, jede ihren eigenen Schal aus selbst ausgesuchtem Stoff samt flauschigem Innenfutter.
Heike Bühring hat die Spulen mit dem Unterfaden vorbereitet und die Nähmaschinen mit dem jeweiligen passenden Garn eingefädelt, während die Mädchen in der gemütlichen Ecke den mitgebrachten Kuchen verzehren. Dann kann es losgehen. «Aufgepasst, Mädels. Als Erstes: Wenn ich schreie, hört ihr sofort auf. Die Finger nicht unter den Metallfuß (der aussieht wie ein Schneeschuh) kommen lassen (so eine Nadel ist spitz!); und dann ganz langsam und einfühlsam das Pedal mit dem Fuß bedienen – wie in der ersten Fahrstunde irgendwann mal.»

Es wird still in der Runde, wenn alle konzentriert an den Nähmaschinen sitzen, die Neuen zögern, warten auf Hilfe. Aber endlich haben alle die erste Naht genäht, und zur Überleitung auf den nächsten Arbeitsschritt verspricht Heike Bühring: «Wer einen geschlossenen Kreis, wie hier bei dem fertigen Loop-Schal, wenden kann, bekommt im selben Moment die ganze Quernaht geschenkt!»
Des Rätsels Lösung, wie der Loop genäht und dafür gewendet werden kann, wird hier nicht verraten, nur so viel: Die Inhaberin weiß, wie es geht …
Kim findet es schade, dass es an ihrer Schule keine Nähkurse gibt, «noch nicht mal als freiwillige AG». Die zum Nähcafé Quernaht nächstgelegene Schule, die Oswald-von-Nell-Breuning-Gesamt­schule hat einmal wegen eines Nähkurses angefragt, sich aber nach der grundsätzlich positiven Antwort bisher nicht wieder gemeldet. Schade, denn die Nähcafé-Gründerin versteht es, mit modischen Vorschlägen Schülerinnen zu begeistern, und verströmt so gar kein altbackenes Handarbeitsklima mit Schürzennähen usw., das manche aus ihrer Jugendzeit vom Handarbeitsunterricht kennen.
Für die zierliche blonde Anneli Sindermann, die regelmäßig an einem Kurs im Nähcafé teilnimmt, gehört dagegen Nähen zu den schönen Jugenderfahrungen. «Es war die Zeit, als die Minimode aufkam. Bei uns in der Familie war das Geld knapp, und da hat mir meine Mutter gezeigt, wie ich mir selbst schicke Röcke und Mini-Kleider nähen kann. Auch während des Studiums habe ich ein bisschen autodidaktisch genäht, später ließen Beruf und Kinder keine Zeit dafür.» Mit Beginn der Rente entschloss sie sich, die alte Fähigkeit des Nähens aufzufrischen und zu vervollkommnen, «auch weil es manches, was ich gerne trage – wie schmale Etui­kleider aus schönem Stoff – nicht mehr gibt oder so kurz, dass es mir nicht gefällt».

Es ist nicht leicht für anspruchsvolle Näherinnen, eine gute Auswahl an Stoffen zu finden. Inzwischen gibt es in Darmstadt, Wiesbaden und Frankfurt zweimal im Jahr einen großen Stoff­markt, auf dem auch Händler aus Holland (wo viel mehr als in Deutschland genäht wird) ihre Stoffballen anbieten. Anneli Sindermann kramt in den Näh-Utensilien ihres silberfarbenen Köfferchens, der wie ein Handwerkskasten auseinanderklappt. «Wir haben früher auch alte geschenkte Pullover aufgeribbelt und aus der Wolle etwas Neues für uns gestrickt. Eigentlich bin ich auf alle Katastrophen eingerichtet und denke: Wenn man viele Fähigkeiten hat, muss man sich nicht vor der Zukunft fürchten. Wir nähendes Volk investieren auch lieber in Stoffe und den Fuhrpark statt in Fertigprodukte oder große Events», bemerkt sie lächelnd.
Am Freitag kann es wieder ein langer Abend werden, eine Gruppe hat das Nähcafé Quernaht für eine Pyjama-Nacht gebucht. Nähen sich dann alle Teilnehmerinnen ihren Traum-Pyjama? Nicht unbedingt, vielmehr gibt es keine Stundenbegrenzung wie bei den festen Kursen – bis Heike Bühring verkündet: «Es ist Pyjama-Zeit! Ich will ins Bett …» Für sie ist mit den Öffnungszeiten und Kursen in ihrem Nähcafé ohnehin die Arbeit nicht beendet, denn nochmal die gleiche Zeit muss sie zu Hause für Büro- und Verwaltungs­arbeiten, von der Buchhaltung bis zur Steuer, aufbringen. Und jedes Stück, das sie zum Nachnähen in einem der Workshops vorschlägt, hat sie vorher selbst genäht. «Nähen ist nun mal meine Leidenschaft. Und dass ich das hier verwirklichen kann, mein gelebter Traum.»
Träume entwickeln sich, neue Fragen entstehen. Was ist eigentlich eine Quernaht, was eine Overlock-Maschine? Vielleicht sollte man doch mal für das Traumkleid an einem Nähkurs teilnehmen ...