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Margareta Morgenstern

Nr 171 | März 2014

Erinnerungen an ein Genie der Menschlichkeit

Kurz nachdem ich 1958 meine Stelle als Pfarrer der Münchner Ge­meinde angetreten hatte, besuchte ich Margareta Morgen­stern in ihrem Holzhaus am Ammersee und war dann für knapp zehn Jahre ihr Seelsorger. Sie war damals bereits über vierzig Jahre Witwe und widmete ihre ganze Kraft dem Gedenken ihres Mannes und der Pflege seines Werkes. Sie kannte und schätze schon meinen Vater Eduard Lenz aus der Gründungszeit der Christenge­meinschaft 1921/22 – so stand mir die Tür zu ihrem Herzen offen und es entwickelte sich ein sehr freundschaftliches Verhältnis.
Wenn sie in ihrem kleinen weißen Adler-Triumph-Wagen nach München fuhr und im Hotel Vier Jahreszeiten abstieg, konnte es sein, dass um Mitternacht mein Telefon klingelte, ich aus dem Bett hochschreckte und ihre liebenswerte Stimme am Apparat erklang: «Grüß Gott, Herr Lenz! Ich hätte Sehnsucht nach einem Gespräch. Könnten wir nicht zusammen Abend essen? Kommen Sie doch eben ins Hotel.» Sie hatte nämlich einen ungewöhnlichen Lebens­rhythmus, arbeitete meistens nachts und schlief bis lang in den Tag hinein. Dann sprang ich also auf, fuhr ins Hotel, fand sie an einem auf dem Zimmer gedeckten Tisch sitzend vor, und mit großzügiger Gebärde lud sie mich zu einem kleinen köstlichen Mahl ein. Sie sprach von ihrer Arbeit und ihren Lebensfragen, und ich durfte Anteil nehmen an ihrem Schicksal.
Ihre Arbeit war selbstlos bestimmt durch Christian Morgenstern, dessen ganzes Werk sie auswendig in sich trug. Die Bilder der gemeinsam verbrachten sieben Jahre standen immer noch lebendig in ihrer Seele. Sie suchte seinen dichterischen Nachlass zu ordnen. Bei jedem Besuch in ihrem Haus fand ich sie mit Fragen der Sichtung, der Herausgabe und Überarbeitung beschäftigt. Das große Arbeitszimmer im ersten Stock, in dem auch die Biblio­theken Christian Morgensterns und Michael Bauers untergebracht waren, war oft übersät mit Zetteln und Papieren, es herrschte eine heilige Unordnung darin. Wöchentlich kamen Anfragen von Verlagen oder Zeitungen, und sie bewältigte ohne Sekretärin diese Fülle von Beziehungen, die das geistige und literarische Leben immer neu schuf. – Bis ins hohe Alter hinein war sie rastlos tätig und wach verankert im Hier und Jetzt. Sie nahm regen Anteil am Schicksal ihrer Zeitgenossen und hatte so immer Interessantes zu erzählen. Im Dorf und in der Umgebung war sie als Original bekannt, zumal sie sich als Fahrerin ihres kleinen weißen Wagens grundsätzlich weigerte, rechts abzubiegen, sodass sie, immer nur linker Hand abbiegend, in der ganzen Gegend Umwege fuhr.
Neben ihrem Telefon hatte sie für den Notfall meine Rufnummer angebracht. So wurde ich eines Nachts gerufen, ich solle dringend kommen, es ginge zu Ende. Ausgerüstet für das Spenden des Sterbesakramentes eilte ich nach Breitbrunn; die Haustür stand offen. In einem Nebenzimmer der Diele wollte ich mich zum Vollzug der Heiligen Ölung umkleiden. Da hatte sie mich wohl gehört und trat im weißen Nachthemd wie eine Geisterscheinung ans Geländer im ersten Stock. Mit deutlicher Betonung rief sie herunter: «Aber Sie, Herr Lenz, was tun Sie hier? Mitten in der Nacht besuchen Sie eine Dame?»
Nach ihrem Tod sollte ich dieses Haus noch weitere Male betreten, um den Nachlass Christian Morgensterns, für den sie die Christen­ge­meinschaft als Erbin eingesetzt hatte, zu sichten und zu bergen.
Die Größe ihrer Persönlichkeit, ihre ganz besondere Lebens­leistung, die ich bei meinen Begegnungen mit Margareta Morgen­stern in jenen Münchner Jahren erahnen und ein stückweit erleben durfte, treten noch viel deutlicher hervor, wenn man den Blick auf ihr ganzes Leben richtet. Vor allem Margareta Morgensterns hingebungsvolles Dienen am Nächsten sei hervorzuheben und sie als jenes Genie der Menschlichkeit zu würdigen, das sie in meinen Augen zweifellos war.

von Johannes Lenz