Ralf Lilienthal

Freunde, die Gutes tun

Nr 173 | Mai 2014

oder: das unsichtbare Netzwerk der Berliner Wohnungslosen-Helfer

Ein Obdachloser auf einer Bank in der Fußgängerzone. Gebeugter Rücken, glasiger Blick, zerfurchtes, stoppelbärtiges, zahnloses Gesicht. Ein fremdes, fernes Schicksal? Und wenn es ein Freund aus Kindertagen wäre … ?
«Hock’ dich mal da gegen die Wand. Hier, meine Mütze, leg’ sie vor dich hin. Was passiert jetzt, wie fühlst du dich?» Es braucht kaum dreißig Sekunden und ein wenig Impro-Theater, um ganz unten anzukommen! Der Reporter sitzt in Bettlermanier an einer Ziegel­wand vor dem Berliner «Bahnhof Zoo», während ein Mann mit freundlichem Gesicht aus etwa drei Meter Entfernung auf ihn zugeht, sich hinunterbeugt und seine Münze abwirft. «Merkst du das?» Und ob! Du, da unten, den Blick auf die sich nähernde Silhouette, da oben, gerichtet, dein wegkippender Nacken – ein Macht-Ohnmachts-Gefühl, das durch kein noch so freundliches Geberlächeln überbrückt werden kann.
Ohne Zweifel, Dieter Puhl, der Leiter der Bahnhofsmission an der spätestens seit Christiane F’s Buch legendär-berüchtigten Jebens­straße, versteht sein Handwerk! Aber was ist das – Gutes tun und darüber reden!? Und wie er redet, manchmal auch nur zeigt und so auf den Besucher wirken lässt, was mit Worten kaum zu be­schreiben ist. Hundertundeine Form Elend, aber viel mehr noch und eigentlich vor allem die an diesem Ort gelebte, getätigte Hoffnung. Sie materialisiert sich in der Kleider- und Hygiene­artikel­kammer, in den Notübernachtungszimmern und sanitären Anlagen, in Speisesaal und Speisekammer. Handfest realisiert von jährlich über 100 Praktikanten, knapp 200 Arbeit-statt-Strafe-Stunden-Ableistern, von 100 Ehrenamtlern und von 10 Festan­gestellten, die sich 7 volle Stellen teilen. An 365 Tagen im Jahr und 24 Stunden am Tag.
Wer hier auch nur einen halben Tag hinsieht, zuhört und sich berühren lässt, den erwarten außergewöhnliche Perspektiven auf die unauslotbare Spezies Mensch. Denn die «Gäste» – täglich wieder­kehrende Hilfesucher und solche auf dem Transit zwischen zwei Endstationen – bekommen durch die erzählenden Helfer Name, Gesicht und Geschichte. Und sie lassen nicht nur am «Baum des Gedenkens für die verstorbenen Obdach­losen» in der Jebens­straße unverwechselbare Spuren der menschlichen Individualität zurück.

Geben und Zurückkriegen

Nicht weniger beeindruckend sind die auf der anderen Seite. Die Kaffeekocher und Eintopfausschenker. Die Türsteher und Wartemarkenverteiler. Die Zuhörer und Ermöglicher. Etwa die kaum sechzehnjährige Schülerin, die von den «krassen Lebens­ge­schichten» berührt wird, kein bisschen ängstlich ist, «irre viel Spaß» hat und zugleich einen Begriff von der lebensverändernden «Charakter­bildung» an diesem ungewöhnlichen Ort. Oder die verwitwete 75-jährige Dolmetscherin und Erzieherin, die hier einmal in der Woche ihr Bestes gibt und «noch mehr zurückkriegt», die von ihren Gesprächen mit F. erzählt, dem Philosophen, Straßen­musiker und Flaschensammler, der draußen leben will und «kein Säufer ist und kein Asozialer», und den nur die abstempeln, die ihn nicht kennen! Oder R., der hier vor Jahren auflief, um seine Arbeit-statt-Strafe-Stunden abzuleisten. Mit Glatze, Piercings und Tattoos das «Muster von einem braven Bürger», einer dem Dieter Puhl alles – das heißt aber eigentlich nichts – zutraute: «Und dann hat er zuverlässig jeden Abend einen wohnungslosen Rollstuhlfahrer, der bis zur Halskrause eingekotet war, reingeholt, ausgezogen, geduscht und wieder frisch angezogen! «Schließlich ist er als Ehrenamtlicher geblieben und inzwischen ein unbeirrbar-tatkräftiger Schichtleiter im Vollberuf.»
Und dann ist da noch das unsichtbare Netz, in das die Bahnhofs­mission zum Wohl ihrer Schützlinge eingebunden ist und das am Ende aus nichts anderem besteht, als wiederum aus empathischen Menschen: Die Caritas Arztambulanz bietet kostenlose medizinische Ver­sorgung für Menschen ohne Krankenversicherung an; die Deutsche Bahn, die den «Bahnhof Zoo» beheizt und die Räum­lichkeiten aller deutschen Bahnhofsmissionen, samt Nebenkosten, mietfrei zur Verfügung stellt; der mit allen Gewohnheiten brechende, weltweit möglicherweise einzigartige Berliner Verein Polizisten für Wohnungslose; der Verein Fixpunkt e.V. , der dafür sorgt, dass die Spritzen der Heroinsüchtigen nicht auch noch HIV-Viren, Hepatitis und andere Scheußlichkeiten verbreiten; der mobobdachlose machen mobil e.V. und seine Zeitung strassenfeger, die …

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Nein, darüber sollten wir aus guten Gründen etwas länger sprechen! Am besten mit dem langjährig erfahrenen Journalisten Andreas Düllick, Vorstand des mob e.V. und Chefredakteur des strassenfeger. Wer dem vitalen, scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringenden Mann gegenübersitzt, kann sich kaum vorstellen,
dass die strassenfeger-Redaktion, das Kaffee Bankrott und das Sozial­warenkaufhaus Trödelpoint gerade erst den Kraftakt eines Komplett­umzugs hinter sich gebracht haben – mit eigenem LKW, eigener Manpower und, wie fast immer, nur ergänzender finanzieller Unterstützung (in diesem Fall durch den Paritätischen Wohlfahrts­verband). Typisch mob e.V., denn schon die Aktivisten der Gründerinitiative wollten mit der Herausgabe einer Obdachlosen­zeitung ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Heute, über 20 Jahre später, erscheint der strassenfeger – redaktionell und optisch gediegen gemacht – 14-tägig zwanzigtausendfach und verschafft seinen etwa 1800 Verkäufern mit 90 Cent pro Heft nicht nur ein greifbares Zubrot, sondern das Bewusstsein geregelter Arbeit und bescheidener «Selbstständigkeit» – das Unter­nehmer­risiko unverkaufter Hefte eingeschlossen.
Lässt man die Arbeit des mob e.V. auf sich wirken, kommt einem fast zwangsläufig das Bild guter, handwerklicher Arbeit vor das innere Auge. Stetigkeit und eingeübte Routinen, Gelassenheit und Zuverlässigkeit – bei Andreas Düllick und seinem kleinen schlagkräftigen Team ist das zerbrechliche Leben der vom Schicksal in exzentrische Bahnen Geworfenen definitiv in guten Händen! Aller­dings – wer sich auf den Webseiten der «mobler» ein wenig umsieht, dem könnte zwischen dem hauseigenen Tonfall ein weiterer, sehr eigener Klang auffallen. «One Warm Winter» heißt da der auffällige Link zu einer Kampagne mit dem ausgesprochenen Ziel: «Kleidung für Obdachlose».
Die Sache ist ein Hingucker. Was an dem abgebildeten Obdachlosen liegt, der – Kleider machen noch immer Leute – mit weißem Vollbart, Winterjacke und Norweger­strickmütze eher wie ein Nordmeersegler aussieht. Oder an Palina Rojinski, Elyas M’Barek, Marteria, Olli Schulz, MC Fitti, Visa Vie und Flo Mega. Ja, all diese Ikonen der Jugendkultur stellen ihr Gesicht und ihren guten Namen gerne in den Dienst der friends with benefits.
Recherchiert man den «friends» hinterher, landet man zuerst bei Dominic Czaja und Joachim Bosse, den Gründern der Kreuzberger Kiez-Werbeagentur dojo. Die hatten, kurz vor dem Bibberwinter 2010/11, ihre Kreativität dem strassenfeger zur Verfügung gestellt und waren dann, ganz privat und vernetzt mit guten Freunden, dem Hilferuf nach warmer Kleidung gefolgt. Und weil die Kreativität der Kreativen gelegentlich über den Tellerrand des Jobs hinausschwappt, bekam diese erste, noch völlig unorganisierte «Kampagne» zugunsten Wohnungsloser eine muntere Dynamik. Texter, Grafiker, Web­designer und alles andere, was die junge Agentur an Talent und Profession einsetzen konnte – als reines Freizeitvergnügen versteht sich – warfen sie auf die Waagschale und erzielten beachtliche Ergebnisse.

Machen, wie es noch nie gemacht wurde

Es waren dann im Kern «Fünf Freunde», die der selbst gewählten Aufgabe auch im Frühlings­sonnenschein verbunden blieben. Neben Dominic Czaja und Joachim Bosse noch Felix Lyss, Daniel Uppenbrock und nicht zuletzt der Schauspieler Wilson Gonzalez Ochsenknecht. Etwas wuchs! Entfaltete Wirkungen, so wie eine kraftvolle Pflanze unaufhaltsam Blätter und Blüten treibt: Mikrospenden im Verbund mit einer interaktiven Homepage, 1000-Leute-Partys (Eintritt, Getränke, DJs und Bands komplett im Pro-Bono-Modus), zusammen mit Muschi Kreuzberg die Merchandise-Shirt-Kampagne «Das Leben ist kein U-Bahnhof», ein Sampler mit Künstlern des Four Music Labels, U-Bahn-Guerillaaktionen mit den Breakdanceweltmeistern Flying Steps, eine Essensmarkenaktion mit der Berliner Fastfoodkultstätte Mustafa’s Gemüsekebap … Kaum war die kreative Meute von der Leine gelassen, entwickelte sie ein geradzu unheimliches Gespür für das, was (vor allem bei jungen Menschen) funktioniert!
«Sie haben das Thema ‹Wohnungslosigkeit› sexy gemacht!», sagt Andreas Düllick – und es liegt keine Spur Ironie in seinen Worten. Warum auch, denn dass die «Freunde» einen so guten Start hinlegten, verdankten sie schließlich auch der Möglichkeit, den anvisierten sozialen «benefit» unter dem Gemeinnützigkeits­schirm des strassenfeger tun zu können.
Doch selbst in organisatorischer Hinsicht sind die nun ganz offziell als friends with benefits firmierenden «Jungs» bereits einen entscheidenden Schritt weiter. «Wir haben uns für das Instrument der Treuhand­stiftung entschieden, das unser ideellen Innovationskraft eine geeignete Plattform bietet», erklärt Felix Lyss, der zusammen mit Daniel Uppenbrock inzwischen die geschäftsführerische Haupt­arbeit der «friends» verantwortet.
Wie es weitergeht? «Wir versuchen immer, die Dinge so zu machen, wie sie noch nie gemacht wurden», sagt Daniel Uppenbrock. «Anfangs stand die unmittelbare, faktische Hilfe im Fokus der Öffentlichkeit. Doch spätestens nachdem wir die Solidaritätskette fotografiert hatten und auf Plakaten in ganz Berlin Palina Rojinski oder Elyas M’Barek einträchtig neben Obdachlosen zu sehen waren, wurde deutlich, dass Aufklärung und Sensibilisierung mindestens genauso wichtig sind!»*
Während die beiden knapp Dreißigjährigen klug und konzentriert ihre «mit Freunden» entwickelten Ideen und Projekte darstellen, tritt der Reporter in Gedanken einen Schritt zurück. Lässt bedrückende und beglückende Momente der letzten Tage an sich vorüberziehen. Und ist – einen irrationalen Moment lang – Optimist!