Quatorze-dix-huit

Nr 174 | Juni 2014

«La guerre de quatorze-dix-huit» – so hieß bei mir in der Familie der Erste Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg hieß aber dafür nicht la guerre de trente-neuf-quarante-cinq, sondern wie sonst auch der Zweite Weltkrieg, la deuxième guerre mondiale. Diese unterschiedliche Art, auf die «Ur-Katastrophe» des 20. Jahrhunderts hinzuweisen, legt nahe, dass für die Franzosen eine andere Perspektive vor­herrschend war: mehr als der spätere «zweite» Weltkrieg war der «erste» ihr Krieg, der Krieg Frankreichs gegen Deutschland, den übermächtig drohenden Nachbarn, dem sie bereits im Krieg 1870 – 1871 unterlegen waren.
Für mich als Kind war der Erste Weltkrieg immer durch meine vielgeliebte Urgroßmutter Germaine präsent. Sie war als junge Frau von Frankreich nach England gezogen und arbeitete in einem Delicatessen, einem Feinkostladen in Soho/London mit ihrem Bruder zusammen, später auch mit ihrem Mann Henri. Gleich zu Beginn, im August 1914, zog ihr Mann in den Krieg und hinterließ seine schwangere Frau. Ihre Tochter, meine Großmutter, kam Ende Oktober 1914 in London zur Welt und hat ihren Vater nie gekannt – er fiel im ersten Monat des «großen Krieges». Während des Krieges aber wurden die Fenster des Feinkostladens von wütenden Engländern immer wieder mit Steinen be­worfen, da sie unter der Bezeichnung «Delicatessen» einen deutschen Feinkostladen vermuteten …
Im Zweiten Weltkrieg lebte und arbeitete meine Urgroßmutter noch immer in London, während ihre Tochter mit bereits drei eigenen Töchtern in der Normandie lebte. Meine Urgroßmutter hatte einen neuen Lebensgefährten gefunden. Bei einem der letzten Luftangriffe der Deutschen auf London fiel auch er. Der Gedanke, dass sie drei Enkelinnen hatte, hielt meine Urgroßmutter am Leben. Viele Jahre durften mein Bruder und ich in der Obhut dieser von zwei Weltkriegen so betroffenen Frau verbringen. Sie kam auch nach Deutschland zur Hochzeit ihres Urenkels mit einer Deutschen und auch später, um ihre ersten zwei Ururenkel zu besuchen. Dankbar kann man sein, dass ein Einzelner immer auch mehr sein kann als sein Schicksal.

Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin