Markus Osterrieder im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Der Erste Weltkrieg und wir, 2014

Nr 174 | Juni 2014

Manchmal hört man: «Lass doch die alten Geschichten!» Ja, wer nur an der Vergangenheit klebt, verbaut sich das «Jetzt» der Gegenwart und die Offenheit für die Zukunft. Aber – wer so tut, als spiele die Vergangenheit für ihn keine Rolle, verleugnet, was ihn geprägt hat, und kommt nicht zu der Frage: Bin ich nur Opfer der Umstände, der Zufälle – oder kann ich auch selbst gestalten, Freiräume nutzen, indem ich Erfahrungen und Wissen denkend einsetze? Das gilt auch für Geschichte und Politik, zumal gravierende Ereignisse ihren Niederschlag sowohl in Schulbüchern als auch in aktuellen Medienberichten finden und in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben sind. Dazu zählt der Erste Weltkrieg, der vor 100 Jahren begann und mit über 17 Millionen Toten vier Jahre später endete. Auch heute ist die Welt mit Kriegen konfrontiert, gibt es Konstellationen, die an die Situation von 1914 erinnern, sei es auf der Krim, im Mittleren Osten oder in Asien im Raum zwischen China und Japan.
Dr. Markus Osterrieder ist Historiker und Slawist. Für ihn liegen Ursachen des Ersten Weltkrieges u.a. im materialistischen Weltbild des späten 19. Jahrhunderts, in versäumten Reformen und elitären gesellschaftlichen Strukturen, die die spaltenden Kräfte der Nationalismen für die eigenen Ziele verwenden wollten.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Osterrieder, für viele Menschen ist Geschichte ein langweiliges Schulfach. Wie kamen Sie als junger Mensch dazu, etwas in diese Richtung zu studieren? Und warum kam dann Ihr vertieftes Interesse am Ersten Weltkrieg?
Markus Osterrieder | Bereits vor dem Abitur interessierte mich existenziell, was das für Menschen sind, was für Kulturen jenseits des «Eisernen Vorhangs» existieren, der den Westen ja bis 1989 vom östlichen Europa abschottete, und ich begann Slawistik zu studieren, später kamen Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft dazu. Ein Auslöser war zudem der Aufstand der Werftarbeiter in Polen, die Solidaritätsbewegung Solidarnosc ab 1980. Auch die Folgen des Atomreaktorunfalls von Tschernobyl 1986 trugen dazu bei, dass die verfestigten Strukturen in Bewegung kamen und sich die sozialistischen Gesellschaften in Richtung Transparenz und Selbstbestimmung entwickelten. Aber auch auf der westlichen Seite gab es damals ja einen großen Aufbruch der Bürgerrechts­bewegungen.
Vor dem Ersten Weltkrieg bestand diese Trennung zwischen West- und Osteuropa nicht, wie sie heute in den Köpfen noch so eingefahren ist. Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie war ein Vielvölkerreich, in dem sich unterschiedliche Kulturen durchdrangen. So war es in vielen Regionen bis hin zum Schwarzen Meer, aber auch in den großen Städten üblich, dass zwei, drei, vier Sprachen gesprochen wurden, darunter oft auch Deutsch. Diese Kultursymbiose hat mich immer fasziniert, zumal man heute sieht, wie notwendig es innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist, Vielfalt unter einem gemeinsamen Dach zu pflegen und weiterzuentwickeln – wenn sie mehr als ein Wirtschaftsprojekt sein soll und eigentlich größere Mitbeteiligung ihrer Bürger ermöglichen müsste.

DKM | Wie war die Situation vor Beginn des Ersten Weltkrieges, wie erlebten die Menschen diese Zeit?
MO | Technik und Industrialisierung besaßen bereits ein solch rasantes Tempo, dass sich der Alltag vieler Menschen radikal veränderte. Nervenkrankheiten nahmen rapide zu. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kann man auch von einem völligen Umbruch des Weltbildes sprechen, ein stark materialistisch eingefärbtes Welt- und Menschenbild breitete sich aus. Die Evolutionslehre von Darwin brachte in der Politik den Sozialdarwinismus hervor – demnach befänden sich die Völker in einem ununterbrochenen wirtschaft­lichen Kampf ums Überleben, in dem der am besten Angepasste sich durchsetzen würde. Gedanken aus der älteren Zeit des Idealis­mus, die sich mit Fragen wie «Was ist Sinn und Ziel des Mensch­seins?» oder «Was ist das tiefere Wesen von Humanität?» auseinandersetzten, wurden verdrängt oder völlig verbogen. Es herrschte generell ein großer Fortschritts- und Wachstumsglaube, und viele meinten, es würde immer nur aufwärts gehen. Nur wenige haben sich noch 1913 vorstellen können, dass ein Jahr später ein Welt­krieg ausbrechen würde. Dabei spielte gerade auch der Fortschritt der Technik eine verhängnisvolle Rolle, dass dieser Krieg solch verheerende Verwüstungen nach sich zog: die Eisenbahn, die Truppen schnell transportieren konnte, der Telegraf, der schnelle Kommunikation ermöglichte, Maschinengewehre, Granaten, Panzer, Flugzeugbomben, Giftgaseinsatz und der U-Bootkrieg stehen für immense Materialschlachten, die auf allen Seiten so entsetzlich viele Menschenleben kosteten.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | In Europa weiß man heute, dass ein Krieg für alle Be­teiligten unermesslichen Schaden bringt, dass es letztlich nur Verlierer gibt. Aber bestimmte ethnische Gruppen innerhalb einzelner Staaten kämpfen mit Waffengewalt um ihre Vormacht oder Unabhängigkeit, wie es im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien war und in anderen Gebieten immer wieder aufflammt.
MO | Wie die gegenwärtigen Ereignisse zeigen, ist die Natio­nalitäten­frage weiterhin ein ungelöstes Problem. Vor 100 Jahren wollten die Alliierten nach Kriegsende die Landkarte des mittleren und östlichen Europa nach Nationalitäten neu ordnen, quasi jede Nation sollte einen eigenen Staat bekommen. Dabei wurde ignoriert, dass die Menschen in vielen Gebieten ethnisch und sprachlich so gemischt zusammenlebten, dass sich klare «nationale» Grenzen gar nicht ziehen ließen – ja, dass manchmal gar nicht klar war, von welcher «Nation» überhaupt die Rede war. Zudem war der Erste Weltkrieg bereits ein Krieg der Ideen und Ideologien, und alle Staaten setzten massive mediale Propaganda ein, um die Bevölkerungen zu manipulieren. Positive Kulturbeziehungen, die beispielweise Engländer und Deutsche verbanden, wurden durch negative Hass- und Feindbilder ersetzt. – Das 19. Jahrhundert und das beginnende 20. Jahrhundert waren allgemein durch soziale und nationale Emanzipationsbestrebungen gekennzeichnet. Schon in den Idealen der Französischen Revolution wurden nicht Rechte für eine bestimmte Gruppe oder Schicht eingefordert, sondern allgemeine Menschenrechte. Doch viele dieser Fragen wurden im mittleren und östlichen Europa nicht wirklich angegangen, notwendige Reformen wurden nicht umgesetzt. Und das – neben vielem anderem – entwickelte sich ähnlich einer krankhaften Wucherung, einem Geschwür, das mit Beginn des Ersten Weltkriegs aufplatzte. Nationale und soziale Bewegungen, die Freiheit und Autonomie, ja, Unabhängigkeit forderten, wurden von den Kriegführenden als revolutionäre Kraft wahrgenommen, mit der sich eigene Kriegsziele scheinbar durchsetzen ließen, wenn man sie für die eigene Seite gewann. Der berühmte Transport von Lenin im versiegelten Waggon zurück nach Russland, unter der Leitung des deutschen Militärs, ist da nur die Spitze des Eisbergs.

DKM | Betraf dies alle Völker?
MO | In verschiedener Weise. Die Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn hatte Reformen für seine einzelnen Kronländer immer wieder verschoben und ging dementsprechend am Ende des Krieges an dem Völkerproblem zugrunde. Das Zarenreich Russland ging in zwei Revolutionen 1917 unter, die soziale und nationale Umwälzungen nach sich zogen. Sogar das britische Weltreich stand am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor der Frage, wie man mit den Autonomiebestrebungen in Teilbereichen des Imperiums, beispielsweise in Irland, Australien und Kanada, um­gehen sollte. Dabei wollte man die englisch­sprachige Welt in eine föderale Völkerfamilie unter anglo-amerikanischer Führung umwandeln. 1917 wurde zum Schlüsseljahr durch den Kriegseintritt der USA und die bolschewistische Oktoberrevolution in Russland. Damit tat sich ein globaler Ost-West-Gegensatz auf, der sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter vertiefte.

DKM | Was heißt das für heute?
MO | Es ist für das Verständnis der Gegenwart durchaus notwendig, sich deutlich zu machen, wie die heutige Mächtekonstellation entstanden ist, worin ihre Wurzeln liegen. Worauf beruhen historische Grundlagen der Europäischen Union? Aber auch: Was sind die Grundgedanken der sogenannten «transatlantischen Partnerschaft», der immer stärker werdenden Verbindung zwischen der EU und den USA? Die Vision eines vereinten Westens, einer hegemonialen westlichen Zivilisation, entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg und wurde durch den Krieg in die Öffentlichkeit getragen. – Die Westausrichtung der EU heute wirft die Frage auf, welche Beziehung nicht nur wirtschaftlicher Natur Europa zum Osten eingeht. Die Frage nach einer umfassenden europäischen Identität ist weiter ungeklärt – sind wir Europäer Partner oder Anhängsel eines großen Westreiches, oder sollte Europa zu anderen Räumen hin genauso offen bleiben, damit sich dadurch eine Art vermittelnder Ausgleichsraum zwischen der atlantischen und der pazifischen Hemisphäre der Welt bilden könnte? Gerade weil sich unter den Großmächten weiter ein offener wie verdeckter Kampf um die Ressourcen der Erde abspielt und hinter vielen Konflikten der Gegenwart nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen stehen, wäre dies eine notwendige Aufgabe.

DKM | Was bedeuten diese Überlegungen für den Umgang mit den aktuellen Konflikten?
MO | Die EU tut sicher gut daran, heute eine Politik zu betreiben, die Konfrontation zu vermeiden sucht und auf Mediation setzt, auch wenn das ein langwieriger Prozess ist. Und noch immer existieren kollektive Feindbilder, die konfliktauslösend werden könnten, wenn man nicht auf die tieferen Ursachen eingeht, die diesen Bildern zugrunde liegen. Eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg könnte sein:
Eine wirkliche Selbstbestimmung muss immer beim einzelnen Menschen als Individuum ansetzen, nicht bei wie auch immer gearteten Kollektiven, wie es seit dem Ersten Weltkrieg durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker propagiert wurde. Ständige Grenzziehungskriege und ethnische Säuberungen waren die Folge. Denn der Mensch ist heute nicht als bloßer Baustein eines Kollektivs zu verstehen, sondern als ein Individuum, das in sich unterschiedliche Zugehörigkeiten und Loyalitäten umschließt. Man kann deshalb durchaus aus der Geschichte lernen, um eine Orientierung für die menschliche und gesellschaftliche Entwicklung der Gegenwart zu erhalten.