Christian Kaiser

Safari in die Uckermark

Nr 174 | Juni 2014

Schwüle Tage mit schleierweichen Wolken deuten auf einen baldigen Wetterwechsel hin. Weiße Flecken auf der inneren Landkarte locken mich in die Uckermark, diesen Landstrich im Nord­osten Berlins, dünner besiedelt als jeder andere im ganzen Land und doch in aller Mund seit dem Roman Vor dem Fest von Saša Stanišic, der ihm den diesjährigen Preis der Leipziger Buch­messe einbrachte.
Arno Schimmelpfennig holt mich am Bahnhof in Fürstenberg ab. Uckermark Safari steht auf dem Wagen des selbstständigen Rangers, der seit einem Wildunfall verbeult ist. «Bejegnung mit nem Dam­hirsch», meint Schimmelpfennig und bittet einzusteigen. Der allradgetriebene Kleinbus kurvt über Landstraßen in die Uckermark. Der Ranger erzählt: «3.000 km² groß und kaum einer hier. Vor 20 Jahren sind Wölfe aus Polen in die Schorfheide eingewandert.» Nachdem sie die Oder durchschwommen hatten, bildeten sie Rudel im nahe gelegenen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Dort fühlt sich niemand vom Wolf behelligt. Schwünge in der Landschaft deuten auf Endmoränen hin. Felder, Seen und Dörfer ziehen vorüber. Opulent wie in einem Cinemascopefilm.
Ziel ist Boitzenburg, ein bedeutender Ort südwestlich von Prenzlau. Die Marienkirche kommt in Sicht, sie liegt auf dem höchsten Punkt. Später bewundere ich deren beeindruckende barocke Ein­richtung. Nebenan im Gasthaus Grüner Baum wird gearbeitet. Die Fenster des alten Gebäudes sind vernagelt, die Wände schreien nach frischem Putz. Davor wird der Tanzplatz unter Linden mit frischem Sand geebnet. Umgeben von hohen Bäumen steht es auf einer Insel im Küchensee, nur einem von 590 Seen der Uckermark. Hier war bis 1945 der Stammsitz der Familie von Arnim.
Knorrige Linden führen aus dem Ort durch den Wald zum alten Forsthaus Zervelin. Das Gehöft auf einer Lichtung liegt schön – ringsum herrscht Waldesstille. Nur wenig Licht fällt auf den Waldboden, wo sich winzige Erd­kröten langsam krabbelnd fortbewegen.
Der Doppelte Boitzenburger ist der Weg schlechthin, er führt 19,5 Kilometer in Form einer liegenden Acht durchs Herz der Uckermark. Im Jahr 2009 kürten die Leser des Magazins Wandern ihn zu Deutschlands schönstem Wanderweg. Doch zuerst will ich den Kleinen Boitzenburger wagen, der ist leicht in zwei Stunden zu schaffen und bietet auf zehn Kilometern ständig wechselnde Eindrücke.

Adel verpflichtet

Sicher hat niemand die Uckermark so geprägt wie die von Arnims. Der Einfluss dieser verzweigten Familie, die Macht des Adelsclans sollte stets sichtbar sein – so auch in der Kirche. Dort scheint der strenge Blick des marmornen Grafen von Arnim majestätisch auf die Kirchgänger, aber auch die Fürstenfamilie zu treffen. Im Jahr 1838 ließ Graf von Arnim Peter Joseph Lenné, den besten Landschaftsarchitekten Preußens, nach Boitzenburg rufen. Lenné wurde beauftragt, der Provinz den Zuschnitt einer Landschaft als Ideal zu verpassen. Bald erstreckten sich Alleen und Blickachsen, die meilenweit reichten. Kunst und Gestaltung war der adligen Herrschaft und dem Klerus vorbehalten – Schönheit bedeutete Macht!
Lennés Idealbild ist längst überwachsen. Doch der Kirchturm von Rosenow, eine preußische Meile entfernt, ist von einigen Plätzen aus immer noch zu erkennen. Der Wald ringsherum, einst herrschaftliches Jagdgebiet, ist zu einem Urwald ausgewachsen – alte, zum Teil umgestürzte Bäume liegen einfach da.
Arno Schimmel­pfennig kann tolle Geschichten erzählen, auch weiß er genau über versteckt liegende Namenssteine Bescheid. Erzählt hat ihm die Geschichten Großvater Schimmelpfennig, der war einst Forstinspektor und hat noch in den Diensten des Grafen gestanden. Arno wurde von Kindesbeinen an in die Geschichte und Ge­schichten Boitzenburgs eingeweiht.
Durchs Schilf gelangt man auf einem Steg zum hölzernen Bootsschuppen, einem Relikt der DDR-Zeit. Arno schleppt eine Batterie. Ich trage den Elektromotor zum Boot. Ferngläser, Proviant und Getränke werden schnell verstaut. Mit dem Kahn schlängeln wir uns lautlos über einen verwunschenen Wasserlauf zum zauberhaften Schumellensee, bewundern Hunderte Libellen. Hirsche und Wildschweine durchqueren hier das Gewässer. Gelbe Teichrosen leuchten aus dem blauen Wasser auf. Geraschel im mannshohen Schilf, einzelne Erlen stehen auf Stelzenwurzeln im Wasser. Ringsum verklickern Laubfrösche ihren sonderbaren Sonnen­gesang. Trompetend fliegen drei Kraniche vorüber, ihr Brutgeschäft in den sumpfigen Ufern haben sie beendet. Ein Roter Milan setzt im Flug zum Fischen an – und siehe da; er hält einen Fisch in den Krallen! Nach diesem wahrlich großen Naturtheater lädt das klare Wasser zum Baden ein. Während Arno und ich schwimmen, dösen zwei Biber in der Mittagssonne. Warum der nur einen Steinwurf weit entfernte Findling im Buchwald an Anna Caroline von der Schulenburg erinnert? Sie wurde später eine Gräfin von Arnim. Auf dem Stein steht «Carolinenhain». Nicht nur für ihre Familienmitglieder wurde stets ein Platz im Wald benannt, sondern auch für die von ihnen erlegten Hirsche. Wer sich im tiefen Wald auskennt, findet diese geheimnisvollen Steine und weiß, was deren Namen zu bedeuten haben.
Stille liegt über den klarem Krienkow-See, wir tasten uns mit dem Paddel ans bewaldete Ufer und machen das Boot an einer Baumwurzel fest. Am Hochufer thront der Vier Brüder Platz. Er bietet eine wunderbare Aussicht, aber am Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken auf. Ein Seeadler, an den schneeweißen Schwanzfedern gut als Altvogel erkennbar, kreist über dem Haussee. Kolkraben attackieren ihn, den König der Lüfte kratzt das nicht. Doch uns das nahende Gewitter schon. Aufbruch.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de) Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Der Schatz vom Oberuckersee

Zweiter Tag: Weiter geht es in die östliche Uckermark. Der Wald ist hier längst riesigen Ackerflächen gewichen. Krähen und Kraniche halten Nachlese auf den Stoppelfeldern.
Arno bedauert: Die Wassermühle von Fergitz sei erst kürzlich eingestürzt. Die Kirche steht noch und beherbergt einen kunstvollen Marienaltar. In den Bodenfliesen hinterließ ein Marder seine Fährte. Im Dorf Flieth ist die Kirche seit Artilleriebeschuss im Zweiten Weltkrieg eine Ruine. Zum Glück hat ein Storch droben auf der Mauer sein Nest gebaut. Bald werden seine Jungen flügge. Wir laufen den Pechberg, einen 3000 Jahre alten Grabhügel hinauf, der birgt ein slawisches Fürstengrab. Von oben schweift der Blick über die weite und menschenleere Landschaft. Eine Gruppe folgt uns. Einer der Herren ist der ehemalige Ministerpräsident Matthias Platzeck, der Freunden diese schöne Gegend zeigen will. Der Uckermark-Ranger freut sich über neue Zuhörer und erzählt die Legende vom Oberuckersee. Er weist auf den lang gezogenen See, berichtet von einem Schatz. Wir nähern uns dem See und sehen eine bewaldete Insel, zu der einst eine mehrere hundert Meter lange Brücke geführt haben soll, die den See der Länge nach durchquerte. Slawisches Heiligtum oder eine Burganlage vergessener Herrscher? Matthias Platzeck sagt lächelnd zum Abschied. «Schreiben sie was Schönes.» Wo hat er nur diesen kräftigen Händedruck her?
In der Ruine von Gerswalde herrscht munteres Treiben. In den Mauerresten der Askanierburg wird getöpfert, gesponnen und gesungen. Ein Gedenkstein erinnert an Franz Löffler. Eine weißhaarige Dame in mittelalterlichem Kostüm preist einen Blick in der Heimatstube an und weist auf ein Dokument hin: Franz Löffler gründete 1929 in Gerswalde eine heilpädagogische Einrichtung. Löffler war nach Begegnungen mit Rudolf Steiner dessen Schüler geworden. Mit Hilfe seiner Freunde konnte Löffler das Gut Gerswalde, eines der vielen von Arnimschen Güter, in ein heilpädagogisches Kinderheim umwandeln. Schon bald entwickelte sich Gerswalde zu einem pädagogischen Zentrum in der Provinz. Dem Gründer Löffler folgten Fachkräfte für Medizin, Psychologie, Musik- und Kunsttherapie, Eurythmie und Gartenarbeit. In Gerswalde wurden seelisch und körperlich bedürftige Kinder aufgenommen, nicht nur beschäftigt, sondern nach einem individuellen Heilplan behandelt. Die Nazis steckten Löffler ins Gefängnis, ließen ihn nach zehn Wochen aber wieder laufen. Eine Waldorfschule konnte bis 1950 nur inoffiziell existieren. Löffler wurde dann erneut verhaftet und von der DDR-Justiz ins selbe Gefängnis wie das in der NS-Zeit gesteckt. Später ging Löffler nach Westberlin.

Reise zu Fuß

Donner grollt in der Ferne, Afrikanische Strauße recken ihre langen Hälse über das hohe Gras. Der Regen setzt ein. Meine Schuhe laufen voll Wasser, das Quartier an der Puschkinstraße ist nur mit nassen Füssen zu erreichen – es liegt plötzlich an einem reißenden Bach.
Am dritten und letzten Tag bremse ich mein Fahrrad am Abzweig zum Archehof Falkenhain. Vom Gutsherrn Detlef Wunsch wird das Konzept des Hofes erklärt. Hier werden Pferde, Schafe, Ziegen, Enten, Gänse, Hühner und Kaninchen gehalten und gezüchtet. Besonderes Augenmerk liegt auf der Erhaltung alter Haustierrassen, z.B. von Bentheimer Schweinen, Pommerschen Landschafen und Schleswiger Kaltblutpferden. Die großzügige Hofanlage entspricht genau den Wünschen der Gäste aus der nahen Hauptstadt. Landlust ist eben wieder in – ein Glück für Tier und Mensch.
Nach kurzer Fahrt erreiche ich den Thomsdorfer Kunsthandwerkerhof. «Essen für die Seele!», so wirbt die biodynamische Kantinen­wirtschaft. Verschiedene Gewerke sind im Kunsthandwerkerhof vereint: Christina Radecke malt, plastiziert und fotografiert. Ihr Mann war früher im Bergbau beschäftigt, er betreibt die Kostbar im ehemaligen DDR-Konsum. Hier gibt es in den Sommermonaten Konzerte, Kino und Lesungen bekannter Autoren, die offenbar die Stille der Uckermark zu schätzen wissen und zum Schreiben nutzen. An der idyllisch an einem Klarwassersee gelegenen Krüseliner Mühle will ich wieder Kurs auf Thomsdorf nehmen, bestelle zuvor aber noch mit vor Freude hüpfendem Herzen einen Apfelkuchen, der noch besser schmeckt, als er aussieht. Dann aber begebe ich mich auf den Weg zum Tiergarten.
Still liegt er da, Baumriesen von sieben Meter Umfang bewachen die Szenerie im Abendlicht. Die Spitzbögen des im Dreißigjährigen Krieg zerstörten Zisterzienser-Nonnenklosters Marienpforte stammen aus dem Jahr 1230. Sie ragen wie ein hohler Zahn in den Himmel. Im Sommer dient das einst bedeutende Kloster als dramatische Kulisse für Theateraufführungen. Kriege der Ver­gangen­heit haben an vielen Plätzen der Uckermark Verheerung und Verwüstung hinterlassen. Und manchmal entstehen daraus neue Geschichten.
Alles Illusion? Die Safari, das heißt auf Kisuaheli «Reise zu Fuß», war für mich ein Glück. Nur mit Arno Schimmel­pfennigs Hilfe habe ich die Spuren in der Landschaft entdecken können und gespannt seinen Geschichten gelauscht. Doch Vorsicht: Naturgenuss kann süchtig machen! Ranger, Raben und Kranichen der Uckermark heißt es jetzt, Ade zu sagen. Nicht aber, ohne Wiederkehr zu versprechen.