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Jean-Claude Lin

Im Abschiedsglanz

Nr 174 | Juni 2014

Erika Beltle zum Gedenken

Sommersonnenwende

Seidig schimmern
Blatt und Blume.
Sonne
in des Jahres Mitte
gibt sich ganz.

Dann ein Zögern,
als verhielten Schritte,
als erwachte wer
aus Lust und Tanz.

Sonnen-Wende.
Trauer will dich streifen.
Doch du weißt,
im Abschiedsglanz
können erst die Früchte reifen.



«Meine frühe Kindheit verbrachte ich in einem Paradies –», schrieb einmal die Dichterin Erika Beltle, «so habe ich es jedenfalls erlebt – auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf in Hohenlohe, der von einem Bruder meiner Mutter bewirtschaftet wurde. Ihre Geschwister waren in alle Welt ausgeflogen. Sie ging nach Stuttgart, war Damenschneiderin (mit viel persönlichem Chic) und verbrachte einige Zeit in Wien, um ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen.»
Zwar wurde Erika in Stuttgart am 19. Februar 1921 geboren, doch wuchs sie in den ersten Jahren bei Onkel und Tante im hohen­lohischen Kesselfeld auf, während ihre Mutter in Stuttgart arbeitete. Dort hatte die Mutter die Anthroposophie kennengelernt und sogar auch Vorträge ihres Begründers Rudolf Steiner besucht. So war es für sie selbstverständlich, dass ihre Tochter die Waldorfschule in Stuttgart besuchte. Als Erika 1928 in die erste Klasse kam, war es für sie die Vertreibung aus dem Paradies: «Da fühlte ich mich zunächst unendlich fremd. Die Menschen um mich waren es, und sie sprachen anders wie ich, die ja nur hohenlohischen Dialekt kannte und verstand. … Der Trost und die Freude waren dann in allen künftigen Jahren die Schulferien, die ich vom ersten bis zum letzten Tag in Kesselfeld verbrachte. Als ich größer wurde, half ich bei aller Feldarbeit begeistert mit. Aber die Astern, die ich zum Abschied nach den Sommerferien bekam, blieben für lange Zeit Heul-Astern.»
Nach und nach eignete sie sich das Stuttgarter Schwäbisch an, und anlässlich eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthalts vertiefte sich die Vierzehnjährige in die anthroposophische Literatur ihrer Mutter. So kam es, dass sie in den vielen Briefen, die sie mit ihrem späteren Mann Theodor Beltle während des Zweiten Weltkrieges wechselte, eine nicht nachlassende, beherzte Auseinandersetzung über den Sinn des Lebens und die Einsichten der Anthroposophie führte. Es ist hinreißend und bewegend zugleich, diesen Brief­wechsel zu lesen, der jeden Tag jäh unterbrochen hätte werden können. Nach dem Krieg, als ihr Mann die Leitung des väterlichen Süßwarenbetriebs übernahm, in dem unter anderem die Frigeo-Brause hergestellt wurde, war Erika Beltle 18 Jahre lang für die viermal im Jahr erscheinenden Mitteilungen aus der anthropo­sophischen Arbeit in Deutschland verantwortlich und mit ihrem Mann zusammen für das Eurythmeum Stuttgart tätig. Die Sprache, das Dichten, die Anthroposophie und das Denken blieben ihre bevorzugten Betätigungen – wenn sie nicht mit ihrem Garten und den ihr befreundeten Vögeln beschäftigt oder mit ihrem Theo auf Reisen war. Doch eines kam hinzu, das alles miteinander verband: das Gespräch mit den Freunden.
An einem Donnerstag, am 21. Juni 2012 zur Sommersonnenwende, war ich bei ihr zu Kaffee und Kuchen. Zu meiner Überraschung fragte sie mich gegen Ende unseres Gesprächs, ob ich zu ihrer Bestattung die Ansprache halten könne. Ein Jahr darauf, am 21. Juni 2013, wieder zur Sommersonnenwende, kurz vor 16 Uhr, verließ Erika Beltle diese Erde. Sie hatte sich in ihren 92 Jahren immer danach gesehnt, der Idee in ihrer Wirklichkeit gewahr zu werden, und freute sich so auf den Tod. Aber sie hatte zugleich jede Erscheinung der schönen Natur und das lebendige Gespräch mit ihren Freunden und Bekannten unendlich lieb.
Das letzte ihrer über 700 in sieben Bänden erschienenen Rätsel, das sie mit 90 Jahren dichtete, ist auch aus dieser Liebe entstanden:
Es gibt dem Bau die Festigkeit / und dient uns mannigfalt./ Im Sommer macht’s die Sonne heiß, / der Winter eisig kalt. / Zum Schutz und Schmuck, / je nach den Zeiten, / trägt man zuweilen einen Zweiten. / Will man den Ganzen blühen sehn, / dann muss man ins Gebirge gehen.