Maria A. Kafitz

Little Johnny – walisische Exzentriker

Nr 175 | Juli 2014

«A, B, C, D, E, F, G – little Johnny Redbreast is sitting on a tree.» Mit diesem Reim verbinde ich meine ersten erinnerten Be­geg­nungen mit der englischen Sprache. Mit little Johnny werde ich künftig noch mehr verbinden – auch meine ersten Tage in Wales. Anfangs hatte ich ihn nur nebenbei bemerkt und mal innerlich leise, mal fröhlich laut «A, B, C, D …» gemurmelt. Dann aber begann er zu fehlen, waren die Tage seltsam leer, an denen ich ihm oder einem seiner Doppelgänger nicht begegnete. Ich hege Zweifel, dass es nur ein little Johnny gewesen ist, der mir an den unterschiedlichsten Orten in Wales singend seine rote Brust entgegenstreckte, auch wenn dieser Gedanke überaus ver­führerisch ist.
An einem Ort, den fast jeder Walesbesucher gesehen oder doch zumindest von ihm gehört hat, war er nicht dabei: in Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.
In bitte was? Ja, wer noch nichts von ihm hörte, diesem 58-Buchstaben-Ort* im Süden der Insel Anglesey im Nordwesten von Wales, wird sich jetzt verwundert die Augen reiben, während er seine Zunge wieder auseinanderzuknoten versucht. – Herrlich: Walisisch in seiner exzentrischsten Form.

(* Das ist europäischer Rekord, nur ein Ortsname in Bangkok hat noch mehr zu bieten, und zwar ganze 110 Buchstaben mehr, allerdings nicht in einem Wort, sondern in 21: Krung Thep Mahanakhon Amon Rattanakosin Mahinthara Ayuthaya Mahadilok Phop Noppharat Ratchathani Burirom Udomratchaniwet Mahasathan Amon Piman Awatan Sathit Sakkathattiya Witsanukam Prasit. Das heißt so viel wie «Stadt der Engel» – nun ja, sie müssen Zeit haben, auch die Engel ;-)
Der walisische Ort heißt übertragen: Marienkirche – Planfair – in einer Mulde – pell – weißer Haseln – gwyn güll – in der Nähe – ger – eines schnellen Wirbels – chwyrn drobwll – und der Thysiliokirche – llantysilio – bei der roten Höhle – ogo goch. Einheimische nennen ihn meist «einfach» Llanfairpwll oder nur Llanfair).

Es waren übrigens keine knorrigen Druiden, die vor Urzeiten hier mystische Klangfolgen aneinanderraunten, sondern ein findiger Schuhmacher im 19. Jahrhundert mit einem überaus guten Gespür für das, was heute wohl gelungene «Marketingstrategie» genannt werden würde. Ob ihm die Idee ganz ohne Meeting mit Brainstorming zum Creative Briefing und zur Brand Extension (Himmel, was sich nicht alles erdacht wird!) kam oder eher nebenbei beim Guinness mit Freunden im Pub, bleibt so unbekannt wie sein eigener Name. Und doch sorgte er dafür, dass sein kleiner Ort am Rand der Handelswelt berühmt und vor allem mit einer Bahnstation auf der Hauptstrecke London–Manchester–Holyhead bedacht wurde.
Dass in dem heute rund 3.000 Ein­wohner zählenden Örtchen – die dort Lebenden mögen’s mir verzeihen – nicht viel mehr als der restaurierte viktorianische Bahnhof mit dem imposanten Namen zu finden ist, macht die geglückte Geschichte nicht geringer.
Was in Llanfairpwll… an spielerischer Sprachfindigkeit ins Extrem gesteigert wurde, ist in Wales an vielen Stellen auch anders gegenwärtig: Waliser, besonders im Norden, lieben ihre Sprache, den so eigenen Klang, den besonderen Rhythmus. Und sie haben (wieder) begonnen, sie nicht nur als dekorativen nostalgischen Zusatz zum Englischen auf Schildern und Hinweistafeln zu begreifen (was für Nichtmuttersprachler allerdings schon ein Buchstaben­fest ist!). Seit 2000 ist Walisisch fester Bestandteil im Schul­unterricht, und 2010 wurde es neben Englisch zur offiziellen Amtssprache erhoben. Stolz werden Sprachschulen eröffnet und fast überall Kurse angeboten.

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Fotos: © Sebastian Hoch & Maria A. Kafitz | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Eine dieser Sprachschulen samt kleinem kulturhistorischem Museum liegt an einem fast unwirklich schönen Ort nahe Llithfaen im Norden der Llyn Peninsula, zu dem man allerdings nur mit einem Übermaß an Vertrauen in die Bremsen des Miet­wagens gelangt. «Steil» ist ein viel zu schwaches Wort für das Gefälle der winzigen Straße, an deren Ende das Nant Gwrtheyrn Welsh Language and Heritage Centre liegt. Hier, die wilde irische See und die bizarre Schatten werfenden Steilklippen vor mir und die weitläufigen, mit ungezählten Schafen übersäten grün-weiß gesprenkelten Hügel hinter mir, wurde meine romantische Idee, dass sich England und Irland einst liebten und dabei Wales entstand, sehbar, spürbar, lebendig.
Wildes lehnt sich an Mildes, Schroffes schmiegt sich an Sanftes, Aufgewühltes beruhigt sich durch Gleichmut. Als dann ein farbverschwenderischer Sonnen­untergang über dem Meer die Szenerie fast kitschig werden ließ, setzte little Johnny – ja, er war da – mir noch eine Portion extra Herzschmerz oben auf: Ich entdeckte ihn nämlich trällernd bei einer Tafel über einem Baumstamm mit den Silhouetten von Rhys und Meinir, den ich zuvor gar nicht beachtet hatte. Ach, diese tragische Liebesgeschichte fehlte mir gerade noch …
Rhys und Meinir wuchsen miteinander auf. Aus Freunden wurden Liebende. Alles war gut und leicht und heiter in ihrem Leben. Der Hochzeitstag kam, und nach altem Brauch und Sitte musste sich die Braut verstecken, durfte sich erst wieder zeigen und zur Frau werden, wenn sie vom Bräutigam oder seinen Freuden ge­funden wurde. Meinir wählte als Versteck jenen Ort, an dem sie mit ihrem Liebsten schon in Kindertagen so gerne ausgelassen gespielt hatte: eine alte knorrige Eiche. Hätte Rhys sich nur daran erinnert! Hätte er nur früher daran gedacht! Denn Stunden und Tage suchten seine Freunde und er. Suchten verzweifelt überall. Fast überall. Als Rhys schließlich an einem stürmischen Tag ermattet und verzweifelt Schutz vor einem Gewitter unter jenem Baum suchte und sich endlich erinnerte, schlug ein Blitz ein. Der gewaltige Baumriese brach entzwei, und Rhys fand sie – Meinir, seine tote Braut. Ein letztes Mal schrie sein Herz auf, schrie lauter als der tobende Donner und schwieg dann für immer mit ihrem.

Nach so viel Sentimentalität wird es Zeit, das Herz (!) nun jenen Walisern zu schenken, die durch ihre ausgelebte Schrulligkeit ganz spezielle Spuren in diesem Land der tausend störrischen Schafe (herrlich eigensinnige Exemplare trifft man übrigens überall, die einen Zaun als Grenze geflissentlich ignorieren und gerne als Dreiergespann ausbüchsen) hinterlassen haben.
Einer von ihnen war Sir Bertram Clough Williams-Ellis (1883 – 1978), der mit Portmeirion einen Ort surrealen Zaubers schuf (ursprünglich hieß die einst verwilderte Halbinsel im Nordwesten, die er für gerade mal 5000 Pfund erwarb, Aber îa, «eisige Mündung» – wahrlich kein Name für einen Traumort von Schönheit und Eleganz). Williams-Ellis, der sein Architekturstudium nach drei Monaten abbrach, weil er zu sehr darunter litt, dass nicht der Ästhetik, sondern der Funktion, dem Praktischen und Zweckmäßigen eines Bauwerks Bedeutung geschenkt wurde, entwarf und realisierte einen, nein: seinen Gegenentwurf. Baute einen verspielten Fantasieort im italienischen Stil mit antiken Figuren­ensembles, bunten Hausfassaden, weitläufigen Arkaden­gängen und üppigen Brunnen, umgeben von tropischer Vegetation, die auch little Johnny zu gefallen schien. – Für Williams-Ellis war «Schönheit eine seltsame Lebensnotwendigkeit» – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Und sie musste immer wieder neu gefunden und erschaffen werden. Das muss sie auch heute noch in den Augen seiner Nachkommen, die seinen Realität gewordenen Traum weiterträumen. So ist es auch konsequent, dass in Portmeirion niemand lebt – zumindest nicht auf Dauer. Das würde Alltag zu­lassen und den Ort entzaubern, der die vom «Zweckmäßigen und Hässlichen in der Welt erschöpften Gäste», die hier Zimmer und Häuser mieten können, tagelang und wochenweise ins «Reich der Schönheit entführen soll».
Was Williams-Ellis sein architektonisches Refugium war, ist einem anderen Exzentriker die Welt der Bücher. Das nenne ich noch klügeren walisischen Wahnsinn!

Der 1938 geborene Richard George William Pitt Booth machte aus seinem verschlafenen, unbekannten, wirtschaftlich abgeschlagenen Geburtsort Hay-on-Wye die «Welthauptstadt der Bücher» und ernannte sich, nachdem er mit seinem Antiquariat erste Gewinne erzielt und die verlassene normannische Burg im Zentrum bezogen hatte, zu ihrem König. Am Tag seiner Selbstkrönung, dem 1. April 1977, ritt er auf seinem Pferd namens «Prime Minister» in eine Hermelinrobe gekleidet und mit Reichsapfel und goldener Krone geschmückt in sein Königreich ein. Die Presse sprang darauf an, alle berichteten darüber, und Hay-on-Wye, direkt hinter der «Grenze» zu England gelegen, war in aller Munde.
Wieder glückte ein «Marketing-Gag» – und mehr noch: wieder wurde ein als irreal abgetaner Traum Realität. Heute kommen auf rund 1.800 Bewohner über zehn Millionen Bücher, und zwar Bücher aus aller Welt. Denn auch das war und ist ein «Edikt des Königs»: Reisende sollen neben englischsprachigen Titeln auch Bücher in ihrer Sprache finden, um sich lesend in der Fremde heimisch fühlen zu können. «Ja und nochmals ja!», rufe ich begeistert Ihro Gnaden zu. Doch auch ohne Bücher in deutscher Sprache zu suchen, stellt sich hier rasch ein heimeliges Gefühl ein, denn Hay-on-Wye ist rund um die un­zähligen Buchhandlungen und Antiquariate für alle Genres auch noch idyllisch schön mit seinen verwinkelten Gassen und blühenden Vorgärten.
Wenn etwas gelingt, dann gesellt sich manchmal auch noch das Glück, dieser über­aus scheue Geselle, dazu. So war es 1988, als der Schauspieler und Kulturmanager Norman Florence sehr viel Geld beim Pokern gewann und mit seinem Sohn Peter beschloss, es nicht in ein sinnlos großes Auto und Aktien, sondern in ein jährliches «Fest des Buches» zu investieren. Wo? Na klar: in der walisischen «Welthauptstadt der Bücher»!
Das Hay Festival war geboren, auf dem sich von Mitte Mai bis Anfang Juni auch heute noch die Größen der Literatur die Buchdeckel in die Hand geben und neue Autoren entdeckt werden, vor allem aber das geschriebene Wort gefeiert wird – ausgelassen und ausgiebig. Der frühere US-amerikanische Präsident Bill Clinton bezeichnete das Festival nach einem Be­such als das «Woodstock des Geistes» – ja, Bücher können überaus berauschend sein.

Freude löst bekanntlich auch einen leichten Rausch aus. Einen solchen genoss ich an einem der letzten Tage auf der Insel – nicht mehr im wundersamen Wales, sondern mitten im lebendigen London. Nach der ländlichen Idylle waren die Reize der Groß­stadt fast eine Überforderung für die Sinne, doch London hat neben seinen lohnenden Sehenswürdigkeiten zudem eine Be­sonder­heit, die es in all dem Weltstadttrubel «gemütlich» macht: Stadtparks. Und einer dieser Parks schenkte mir diesen kleinen Moment berauschender Freude. Als ich an den Gwendwr Gardens vorbeikam, einem kleinen walisischen (!) Park in West Kensington, konnte ich gar nicht anders, als ihn zu meinem Ort der Ruhe zu machen. Auf einer Bank erholten sich die Füße vom stunden­langen Gehen auf Asphalt, gingen die Gedanken dafür wieder auf die Reise. Zogen Erinnerungen an die Eindrücke und Erlebnisse der vergangenen Tage in Wales durch Hirn und Herz. Und dann, plötzlich und unerwartet, hörte ich auf der Bank gegen­über nicht mehr die Stimmen anderer Parkbesucher, sondern das liebgewonnene Ziepen von ihm: little Johnny. Ob mich die anderen für sonderbar hielten, als ich lautstark und lachend «A, B, C, D …» rezitierte – es kümmerte mich nicht.