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Brigitte Werner

Crazy Dogs

Nr 175 | Juli 2014

gelesen von Simone Lambert

«Mirjams gesammelte Augenblicke», das sind die Notizen, die diesem jugendlichen Rückblick aus der Perspektive von Miriam zugrunde liegen. Es ist ihre Lebenszeit vom dreizehnten bis zum siebzehnten Lebensjahr, die Mirjam im Ruhrgebiet der achtziger Jahre erlebt.
Crazy Dogs erzählt, wie das sensible und schüchterne Mädchen sich selbst entdeckt, ihre Talente findet und ihr Leben beginnt. Dabei stehen ihr zuverlässig vier erwachsene Bezugspersonen zur Seite: Ihre Eltern, der lebenslustige Pom und die schweigsame Lena, ihre Tante Greta, eine weitgereiste Frau mit Geheimnissen, elegant und klug, und Ötte, der Budeninhaber, mit seinem bissigen Hund Masseltow.
Brigitte Werner hat diese coming of age-Geschichte in einer Epoche angesiedelt, in der all die technischen Gadgets und Social Medias fehlen, die heute den Jugendalltag prägen und normieren. Das sind für heutige Leser ungewöhnliche Frei-Räume, sowohl als Lebenserfahrung als auch als Lektüre. Mirjams Identitäts­findung aber kommt ohne fantastisches Spektakel aus und unterhält dennoch über fast 500 Seiten.
Lena und Pom, die Eltern, sind Mirjams Anker, ihr Hafen. Sie verfolgt genau die Wellen von Streit und Wiederannäherung zwischen den beiden und ist – wie jedes Kind – abhängig von ihrem Wohlbefinden. Zum Teil greift sie entschieden ein, wenn die väterlichen Eskapaden zu belastend werden. Ihre Künstler-Eltern entscheiden und lenken mit Vertrauen in ihre Tochter und in die Zukunft.
Mirjam erfährt stets Begeisterung und Ermutigung bei all ihren Ausdrucksversuchen. Das erste Gedicht schreibt die Dreizehn­jährige über Rotkohl (!) und die Lehrerin ist berührt. Mit ihrem neuen Haarschnitt, der die Vierzehnjährige mit den «Hunnen­augen» zum «Chinesenmädchen» macht, zum Typ, verliebt Mirjam sich zum ersten Mal. Mirjam musiziert mit Ötte und entdeckt ihre Vorliebe für den Blues. Ausdauernd entwickelt sie ihren Gesang und tritt mit 16 sogar auf. Ihre Fotografien stellt die nach einer Lebenskrise gereifte siebzehnjährige Mirjam schließlich erfolgreich aus.
All das sind Stationen einer Ich-Findung, die ebenso nostalgisch wie zeitlos anmutet. Und die nicht ohne Schmerzen verläuft: Als Mirjam in ihrem Mitschüler David einen Freund fürs Leben trifft, geht auch seine belastete Geschichte sie etwas an. Mit Unter­stützung erwachsener Freundinnen rächt sie sich mit 16 für einen sexuellen Übergriff. Mit 17 bricht ihre bisherige Welt zusammen und Mirjam verbringt einige Monate in der Psychiatrie.
Am Ende des Romans hat Mirjam ihre Beziehungen neu geordnet und steht selbständig und selbstbewusst im Leben. Ihre ganz individuelle Reifung in der Pubertät hat aus ihr eine stabile Erwachsene gemacht.
Dies ist eine opulente Entwicklungsgeschichte mit einer enthusias­tischen, überbordenden Sprache, reich an Bildern und Emotionen. Mirjams lange Erzählung lebt weniger von Handlungs­reichtum und durch Unsicherheiten erzeugte Spannung, als vielmehr von dieser intensiven Sprache, die ihre sich wandelnden Gefühle und ihren Erkenntnisprozess unvergleichlich abbildet. Fulminant.


Eine opulente Entwicklungsgeschichte mit einer enthusias­tischen, überbordenden Sprache, reich an Bildern und Emotionen.