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Christian Hillengaß

Sichtbar machen

Nr 176 | August 2014

Sie haben sich schön gemacht für die Fotografin. Vor einem schwarzen Hintergrund entfaltet sich die volle Leuchtkraft ihrer bunten Kleider. Und immer wieder mag das Auge auf die Schönheit und Unversehrtheit dieser farbenfrohen Stoffe fliehen, denn der Blick in die Gesichter ist oft nur schwer auszuhalten. Die portraitierten Frauen sind durch Säureattacken oder Brand­verletzungen entstellt, ihr Antlitz zerfressen, verformt und vernarbt, oftmals verfremdet bis ins Bizarre.
Dass sie sich dennoch mit Selbstbewusstsein vor der Kamera zeigen ist das Ergebnis ihres einsamen Ringens, trotz aller Entstellung zu sich zu stehen. Und es liegt an den unterstützenden Impulsen und der Einfühlsamkeit der Fotografin. Für ihr Projekt UN/SICHTBAR bereiste Ann-Christine Woehrl u.a. Bangladesh, Indien, Nepal, Pakistan und Uganda und traf dort Frauen, die Säure- und Brandanschläge überlebt haben. Achtundvierzig davon hat sie eine Zeit lang begleitet und fotografiert. Vielen ist sie persönlich nahe gekommen, manchen wie zur besten Freundin geworden – bedacht mit aller Dankbarkeit, dass da jemand ist, der hinsieht, zuhört und wahrnimmt.
In den Herkunftsländern jener Frauen ist Säure durch die breite Verwendung in der Textil- und Schmuckindustrie eine billige und leicht zugängliche Waffe. Auch Autobatterien werden angezapft, um die Verbrechen auszuführen. Ungefähr 1.500 Säureattacken werden jährlich weltweit registriert – und es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weit über diese Zahl hinausgeht.
Die Opfer sind überwiegend Frauen. Die Täter überwiegend Männer. Die Motive so zahlreich wie die Abgründe, die in der menschlichen Psyche vorkommen können. Vor allem kulturelle Faktoren wie Mannes- und Familienehre spielen eine große Rolle: Frauen werden aufgrund zu geringer Mitgiftzahlungen von ihren Ehemännern angegriffen, für abgelehnte Heiratsanträge bestraft oder aus Eifersucht attackiert. Aber auch neidische Ehefrauen, Exgeliebte oder enttäuschte Schwiegermütter werden zu Täter­innen. Manchmal sind es auch die Frauen selbst, die durch Selbst­verbrennung einen Ausweg aus unerträglichen Familienver­hältnissen suchen.
Mit ihrer Entstellung erleiden die Betroffenen einen Gesichts­verlust in doppeltem Sinne. Sie werden in der Öffentlichkeit gemieden und ignoriert; viele gehen aus Scham und Depression jahrelang nicht mehr auf die Straße – werden gewissermaßen unsichtbar. Dass die Überwindung dieser Isolation aber nicht unmöglich ist, beweisen einige der Schicksale, die Ann-Christine Woehrl zeigt. Da ist zum Beispiel die 25-Jährige Flavia in Uganda, die ihr Gesicht jahrelang hinter einem Schleier verbirgt, bis sie sich eines Tages traut, ihn wegzulassen und zum Salsatanzen zu gehen, wo die Männer sie mittlerweile häufig und gerne auffordern. Oder die gleichaltrige Neehaari in Indien, die in Begleitung der Foto­grafin zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ihre Maskierung ab­nimmt und diesen Tag zu ihrem persönlichen Unabhängigkeitstag erklärt.
Ann-Christine Woehrl dokumentiert die Geschichten der Frauen, ihre Schmerzen, Hoffnungen und Wege zurück ins Leben auf sensible Weise. Ihre Fotografien beschönigen nichts, aber sie verharren auch nicht im Schrecken. Wer den ersten Anblick aushält, kann sich durch sie zu den Persönlichkeiten hinter den verschwunden Gesichtern führen lassen. Dann wird jedes Bild zum Zeugnis einer Kraft, am Leben zu bleiben, weiterzugehen und zu sich zu stehen. Es tritt mehr in Erscheinung als bunte Stoffe und entstellte Gesichter. Die unsichtbar Gemachten werden wieder sichtbar.

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