Dr. Christoph Meinecke im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Kinder und Eltern – ein Wachstumsprozess

Nr 177 | September 2014

Wir kennen uns aus, schließlich waren wir mal Kind und hatten Eltern. Also alles klar, wenn wir selbst Eltern werden. Oder? Der Alltag in Familien ist selten klar – Kinder nerven und Eltern sind im Stress. Und lieben doch ihre Kinder, machen sich Sorgen um ihre Zukunft und ihre Gesundheit, wollen sie fördern. Der Berliner Kinderarzt Dr. med. Christoph Meinecke, Mitbegründer des Familienforums Havelhöhe, das u.a. Elterntraining und Erziehungshilfen anbietet (www.familienforum-havelhoehe.de), kennt diese Realität aus seiner Tätigkeit rund um Kinder und Familienberatung.
Er weiß: Kinder wollen – und müssen – lernen, wachsen. Müssen und Sollen allein funktioniert aber nicht, um auf dem Weg zum Erwachsenen zunehmend selbstständig zu werden. Schieben hilft auch nicht, führt vielmehr zum Stolpern. Logisch ist deshalb, die eigenen Kräfte des Kindes zu stärken.
Genau dies ist Thema des Kongresses «Kindergesundheit heute», der am 27. und 28. September 2014 in Stuttgart stattfindet: Mit der Frage «Was brauchen unsere Kinder heute?» wendet er sich an Ärzte, Pädagogen und Eltern. Informationen zum Kongress finden Sie unter www.kindergesundheit-heute.de.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Meinecke, die Vorfreude auf ein Kind ist für werdende Eltern etwas ganz Besonderes. Sie ahnen: Ein Abenteuer steht ihnen bevor. Aber der Alltag in der Familie bringt schnell unerwartet viel Arbeit und Stress mit sich.
Christoph Reinecke | Ja, wir sind auf die Geburt eines Kindes vorbereitet wie auf ein Staatsexamen. Und dann? Es folgt ja die Geburt einer ganzen Familie. Jetzt muss man jeden Tag Entscheidungen treffen, muss handeln, ohne dass erst lange darüber diskutiert oder abgewartet werden kann. Das fängt damit an: Welche Windeln nehmen wir, wie soll die Ernährung sein, wie viele Spieluhren soll es haben, welche Impfungen sind sinnvoll? Aber auch: Welchen Rhythmus hat mein Kind, wie kann ich mich auf diesen ein­stellen? Wie schaffe ich es zudem, eigene Bedürfnisse nicht zu hundert Prozent zu unterdrücken und meinen Partner zu berücksichtigen? Bald entsteht die Gewissheit: So weitermachen wie vorher ohne Kind, das geht eigentlich nicht. Heute stehen außerdem viele Familien unter Druck, denn es gilt als modern und familienfreundlich, dass Eltern wenig verändern und Beruf und Freizeitinteressen weiter wie vorher laufen. Nach einer kurzen Auszeit nach der Geburt soll alles rund um den Familienalltag mit professioneller Unterstützung geregelt werden – weil dies den Arbeitszeiten der Eltern entspricht. Aber das hat alles mit der wissenschaftlich belegten Notwendigkeit dessen, was kleine Kinder brauchen, wenig zu tun.

DKM | Was meinen Sie genau mit dem, was kleine Kinder brauchen?
CM | Kindheit braucht Zeit, damit sich aus den mitgebrachten Kräften des Urvertrauens Selbstvertrauen entwickeln kann, damit sich Selbstregulation entfalten kann. Wissenschaftlicher Hinter­grund ist: Der Mensch ist ein Bindungswesen, ein soziales Wesen. Er braucht und sucht von Anfang an das mensch­liche Gegenüber, die Nähe zur Bezugsperson. Ent­scheidend ist, dass das Kind Bindung und Sicherheit erfährt und dass seine Bedürfnisse prompt erfüllt werden – wobei «prompt» nicht un­bedingt heißt «sofort», sondern mit der Frustrations- und Wartezeit, die das Kind entsprechend seiner Entwicklung lernt. Einem Zehn­jährigen kann ich sagen: «Heute können wir nicht Fußball spielen, doch am Wochenende», aber beim Säugling weiß man, dass die Wartezeit, bis eine Reaktion erfolgen sollte, anfangs nur Sekunden beträgt. Wenn er dann auf Dauer erlebt, dass sein Signalruf nicht mit «ich habe dich gehört, bin da» beantwortet wird, entsteht eine Beeinträchtigung. Aber auch das heißt nicht, dass ich mich panisch bemühe, sein mögliches Bedürfnis sofort zu befriedigen. Oft ist ein Lächeln, wenn das Kind zu Füßen der Mutter spielt, ein liebevolles Hochnehmen, das nicht nur ein Ruhigstellen ausdrückt, ausreichend. Die offene, interessierte Haltung, die sich auch im Blickkontakt und kleinen Gesten rund ums Wickeln oder Füttern ausdrückt, ist prägend.
Ich erlebe in meiner Praxis manchmal typische Konfliktsituationen, zum Beispiel wenn das Kind spielt und die Eltern dann nach der Behandlung schnell nach Hause gehen wollen und sagen: «So, jetzt müssen wir aber aufhören.» Sie greifen ins Spiel ein und nehmen dem Kind das Spielzeug aus der Hand. Das heißt: Wir geben unser Erwachsenentempo und Ziel vor – und das Kind wird rebellisch. Die Situation spitzt sich zu, das Kind weint, und die Eltern sagen resigniert und ängstlich: «Der gibt das jetzt nie mehr her.» Aber jedes Kind hat ein Bewusstsein für eine gewisse Ordnung, den Bogen zwischen Anfang und Ende – das heißt, das Spielzeug soll an den Platz. Ich kann das, wenn ich in der Situation den Blickkontakt mit dem Kind habe, durch einen gelassenen Satz wie «Der Last­wagen muss noch an seinen Platz im Regal, ja?» unterstützen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Elternsorgen drehen sich anfangs oft um Schlafenszeiten und Essensprobleme.
CM | Dieser Bogen zwischen Anfang und Ende lässt sich auf vieles übertragen, auch auf Schlafstörungen und Essverhalten von Kindern. Rituale und Regelmäßigkeit helfen entscheidend, dass das Kind sich in einen gewissen Rhythmus einpendeln kann. Dagegen ist der Versuch, ein «Muss» durchzusetzen, nicht sinnvoll. Diese Wirkung können Sie an sich selbst prüfen, wenn Sie schlafen gehen und sich sagen: Morgen musst du fit sein wegen dieser Prüfung – also du musst jetzt gut schlafen. Das ist das beste Mittel, nicht gut zu schlafen! So ist es mit dem Kind, wenn es heißt: Du musst jetzt schlafen, wir müssen morgen früh aufstehen! Aber ich kann auch sagen: Es ist Schlafenszeit! Das ist wie eine Einladung – ob du schläfst oder nicht, das ist deine Sache. Es gibt unseren Ein­schlafritus, aber ich werde nicht zwei Stunden bei dir sitzen, wenn du nicht schläfst. Man ist frei im eigenen Handeln – und gibt dem Kind dadurch auch den Freiraum.
Auch bei Ess- und Fütterstörungen ist es so: Das Essen ist eine Einladung: jetzt ist Essenszeit. Aber niemand wird zum Essen gezwungen. Wenn das Kind dann sagt: Schmeckt mir nicht und esse ich nicht, dann ist das Essen vorbei. Am Abend gibt es wieder Essen, dazwischen verhungert niemand. Aber man setzt das Kind auch nicht moralisch unter Druck, wenn es später etwas will, mit «jetzt ist das Essen vorbei, hättest du mal vorher dran gedacht» – oder «siehst du, hättest du nicht so lange herumgequengelt, könnten wir noch die Geschichte lesen». Im Fußball nennt man es «nachtreten» (und meine Jungs beschweren sich sofort, wenn es mir rausrutscht). Es ist immer wieder ein Übweg für uns Eltern – und auch ein Fehler, wenn man versucht, im Nachhinein zu argumentieren, warum man so gehandelt hat. Ich bin okay, wie ich bin, morgen machen wir es besser – Kind und Eltern.

DKM | Manchmal funktioniert es ganz gut, dann wieder quengelt das Kind so nervenzerrend, dass wir verzweifeln. Sollte ich das Kind mehr einbeziehen und fragen?
CM | Ein respektvoller Umgang heißt nicht, dass ich das Kind bei allem frage und an Entscheidungen mit beteilige, die es nicht überblicken kann. Durch ständiges Fragen, Kommentieren und Bewerten sind heute viele Kinder eher verunsichert und überfordert. Aber das Kind ist selbst zuständig und ver­antwortlich für das, was es fühlt, was ihm gefällt oder nicht gefällt – und für seinen Protest. Wir können doch nachvollziehen: Wenn ich noch ein Eis will oder zwei Stunden fernsehen, dann bin ich traurig, wenn ich es nicht darf. Gefühle kann man nicht begründen oder hinterfragen, indem man sagt: «Du brauchst doch jetzt nicht traurig sein, weil …» Der notwendige Respekt vor dem Kind umfasst den Respekt vor seinen Gefühls­äußerungen – das heißt aber nicht, dass ich immer nach dem Wunsch des Kindes handle. Wie in der Konfliktforschung gilt auch hier: Wir müssen zwischen Verhalten und Person trennen – die Person wird angenommen, wie sie ist, auf das Verhalten reagieren wir gelassen und je nach Situation.

DKM | Kinder können sich immer mehr in eine Abwehr hineinsteigern. Sie sind noch nicht so diszipliniert wie wir mit unseren Gefühlen.
CM | Sind wir das wirklich? Das erleben die Kinder nicht so, auch Eltern lassen zu Hause ihre Gefühle raus. Und Familie ist doch gerade der Ort, wo ich nicht perfekt sein muss; das Zusammen­gehörigkeitsgefühl ist da, ohne dass ich dafür eine Leistung erbringen muss. Diese voraussetzungslose Liebe macht gerade ein stabiles Familiensystem aus. Das weiß auch ein Kind. Wenn es nicht bei seinen Eltern den Frust rauslassen darf, wo dann?

DKM | Manche Kinder sind unkonzentrierter oder aufgedrehter als andere. Eltern, Pädagogen fragen sich, ob sie mehr Grenzen setzen sollten …
CM | Grenzen, die man nicht durchsetzen kann, sollte man nicht setzen. Regeln, die ich nicht einhalten kann, sind keine vernünftigen Regeln – denn Regeln sollen immer der Lebensnotwendigkeit abgeschaut sein. Unser großer Fehler bei der Grenz- und Regelfrage ist oft, dass wir erwarten, dass das Kind es einsieht. Doch das Kind muss nichts einsehen, es lernt das auch nicht aus Diskussionen, in denen es darum geht: Du sollst einsehen. Sicher ist, jedes Kind will primär kooperieren! Die Frage ist: Was liegt wirklich vor, wo hat das Kind seine Schwierigkeiten? Meist haben die Kinder selbst die wenigsten Probleme mit ihrem Verhalten, sondern die Hauptprobleme tauchen durch den Kontakt mit der Umwelt auf – zum Beispiel, weil es ihnen schwerfällt, ihre Impulse aufzuschieben (statt sofort etwas zu sagen, zu tun). Dann erfahren sie eine soziale Zurückweisung und ihr Selbstwertgefühl wird gestört. Dafür sind aber auch unsere Erwartungshaltung und das umgebende System, die Schule, verantwortlich. Die Grundlage unseres Schulsystems ist über 100 Jahre alt und baut auf Disziplinierung; das beschränkt den Bewegungs­impuls der Kinder. Schon mit einer Stunde Sport jeden Tag können sich Kinder besser konzentrieren, und es entstehen weniger soziale Probleme, wie Untersuchungen ergeben haben.
Auch unser unbedingter Wunsch, dass die Kinder sich optimal entwickeln und immer glücklich sind, verstärkt die hohen Erwartungen an die Kinder. Aber als Eltern müssen wir lernen, dass es auch im Leben der Kinder Phasen gibt, wo sie unglücklich sind, unzufrieden und leiden. Sie sind nicht unser Aus­hängeschild, wir können uns nicht im Erfolg unserer Kinder sonnen, denn viele Kinder leiden heute darunter, weil sie sich von ihren Eltern und deren Erwartungen emotional nicht frei machen können.