Brigitte Werner

Ganz schön alt

Nr 177 | September 2014

«Du bist schon alt, stimmt’s?» – sagt jemand hinter mir und ich erschrecke. Ich packe gerade mein Buch und mein Lesematerial zusammen. Die Kinder haben Pause, die Lehrerin Aufsicht, ich bin allein. Dachte ich. Und so alt bin ich auch wieder nicht, denke ich noch trotzig. Aber nichts da – ich bin alt. Zwischen dreißig und neunzig ist alles möglich, wenn die Kinder schätzen dürften. Als ich mich umdrehe, steht der sehr blasse Junge mit dem sehr müden Gesicht vor mir, der mir beim Lesen und Erzählen schon aufgefallen war, weil er so aufmerksam zugehört hatte, dass mir die Metapher «an den Lippen hängen» sogar beim Vorlesen in den Sinn kam. Gesagt im anschließenden Gespräch hatte er nichts. Kein Wort.
«Bist du bald tot?», fragt er. Ich hole erst mal Luft. «Ich hoffe nicht», sage ich. «Weißt du, ich würde gerne noch ein paar Bücher schreiben.» Sein blasses Gesicht schaut sehr ernst in meines. Er nickt. «Aber wenn nicht?», fragt er. «Tja», überlege ich laut, «ich hoffe, ich bin dann woanders, wo ich vielleicht auch Bücher schreiben kann. Oder andere schöne Dinge machen darf.» – «Und wenn nicht?», fragt er hartnäckig. Ich stutze. «Meinst du, wenn man tot ist, ist das alles vorbei?» Er zuckt mit den Schultern. «Und wenn doch?», flüstert er. «Nein», sage ich nun mit Bestimmtheit und setze mich aufs Pult. Es wird interessant. Da ist eine Spur, die zu leuchten beginnt. Ich will ihr folgen, beschließes ich.
Der Junge betrachtet mich da oben auf dem Pult und setzt sich auf einen der Schultische mir gegen­über. «Ich glaube, dass ein sehr schöner Ort irgendwo auf uns wartet», sage ich nun mit Nachdruck. Ein winziges, zaghaftes Flackern zittert in seinen Augen. «Weißt du», sage ich, «ich glaube nicht, dass irgend­etwas auf unserer wunder­baren Erde einfach zu Ende ist. Alles kehrt doch wieder oder verändert sich.» – «Werden wir dann ein Baum oder sowas?», fragt er. Ja, tat­sächlich, eine Zeit lang Baum sein zu dürfen zum Ausruhen und Stärken, das könnte mir gefallen.
Ich sage ihm das. Er nickt heftig.
«Sie hat immer Bäume gemalt», murmelt er, und ich beuge mich zu ihm vor. Unsere Augen treffen sich und er kippt eine Tonne Kummer in meine. Ich fühle Schmerz und Sehnsucht und Alleinsein. Auch Verzweiflung. Kaum auszuhalten.
«Ist sie gestorben?», flüster ich. Er schaut nach unten und nickt.
Er tritt heftig an den Tisch. «Du bist alt», sagt er. «Ja», nicke ich.
«Ich kann nichts dafür. Ich bin’s einfach geworden.» Er hebt den Kopf. «Du kannst plötzlich tot sein», meint er. Und sieht mich misstrauisch an. «Ja», sage ich. «Plötzlich ist gemein», murmelt er. Der Tisch bekommt einen weiteren Tritt. Mein Herz auch. «Immer musste sie hochschauen», sagt er leise. «In diese blöden Bäume! Sie ist einfach über die Straße, einfach so», sagt er. «Sie war doch noch klein.» Dann ist es still.
Ich weiß einen Moment nicht weiter. «Jetzt geht es ihr gut», sage ich nach einer Weile. «Ganz bestimmt. Ich weiß es gewiss.» Wir schauen uns lange an. «Du weißt das, weil du Bücher schreibst, stimmt’s? Und weil du schon ganz schön alt bist.» – Hhm, was soll ich sagen?
Die Tür fliegt auf. «Verflixt noch mal, Lukas», schreit die Lehrerin. «Kannst du nicht wie jedes normale Kind in die Pause gehen, musst du dich immerzu im Haus rumdrücken?» Ich schlucke eimer­weise an meiner Spucke. Ich springe vom Pult. Ich sehe plötzlich Angst in seinen Augen. «Wir haben noch etwas über mein Buch geredet», sage ich und zeige ihm mein gekonntes Verschwörer­lächeln. Er versteht. «War okay», sagt er und verschwindet.
«Ein seltsames Kind», sagt die Lehrerin. «Ist seit einem Monat hier. Sagt nie was. Wir hätten noch Zeit für einen Kaffee ...»
Nein, kein Kaffee. Und kein Lehrerzimmer. Im Auto übt mein Kopf immerfort Erklärungen und Trostsätze für diesen blassen Jungen. Und ich bin froh, alt zu sein. Ganz schön alt. Danke, Lukas.