Christa Ludwig

Plädoyer für ein artgerechtes Menschsein

Nr 177 | September 2014

«Popcorn» heißt der zum Thanksgiving-Fest 2013 von Präsident Obama persönlich begnadigte Truthahn. Denn es gehört zur Tradition des Festes, dass man Pute isst und dass von den zahllosen dafür geschlachteten Truthähnen einer vom Präsidenten begnadigt wird. Die Umkehrung des Opferritus? Es wird nicht einer geopfert, damit alle leben, sondern einer überlebt, damit all die anderen … Was denn? Besser schmecken? Oder wird durch Popcorns Überleben das ganze Volk darauf aufmerksam gemacht, dass die anderen Puten eben sterben? Wie nah sind wir Europäer dieser Erkenntnis? Beim Skandal «Pferdefleisch in der Lasagne» brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung es treffend ironisch auf den Punkt und titelte: «Man hat uns Tier ins Fleisch gemischt!»
Warum die Empörung? Weil Pferd ein Lebewesen ist, das zu unserer Gemeinschaft gehört und Rind eines, das wir zu unseren Lebensmitteln zählen? Was rechtfertigt diese Unterscheidung?
Wir wissen, dass die Erkenntnis «Schnitzel ist Schwein» für viele Kinder ein Schock ist. Scheinbar gelassen reagierte die fünf­jährige Tochter einer Freundin. Beim Mittagessen sagte Mia (Name geändert): «Warum heißt das Huhn? Ein Huhn ist doch was ganz anderes!» Die Mutter gab eine ehrliche Auskunft, Mia aß nachdenklich weiter. Am Nachmittag beobachtete die Mutter die Kinder beim Spiel. Ein kleiner Junge knatterte mit seinem Traktor über den Hof. Mia warf ihm Äpfel vor die Räder, einer wurde dabei nur angequetscht, sie hob ihn auf und sagte: «Das ist noch nicht ganz tot. Da musst du noch mal drüber.» – «Was macht ihr da?», rief die Mutter entsetzt und erfuhr: Mia hatte ja gelernt, das man nicht wegwirft, was man essen kann. Also nahm sie an, dass ein vom Bauern versehentlich überfahrenes Huhn eben gegessen wird. Ach, kleine Mia, wie sehr du dich irrst: Die 628 Millionen Hühner, die letztes Jahr in Deutschland geschlachtet wurden, sind nicht verunfallt. Dafür gibt es Fabriken, riesige Tötungsfabriken, besonders effiziente in Deutschland – Halt! Stopp! Nein! Ich habe nichts von Auschwitz gesagt. Niemals vergleiche ich auch nur irgendetwas mit Auschwitz. Aber ich darf einen zitieren, der es tat, dem man es nicht übel nimmt, weil er Jude war. Theodor W. Adorno hat gesagt: «Auschwitz fängt da an, wo einer auf dem Schlachthof steht und sagt: ‹Es sind ja nur Tiere.›»
Ja, das hat er gesagt, und dabei hat er den Hühnerschlachthof im niedersächsischen Wietze mit einer Kapazität von 428.000 (nach der Süddeutschen Zeitung) geschlachteten Hühnern am Tag gar nicht gekannt.
In Frankreich wurde kürzlich ein Mann zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er eine Katze gequält hatte. Er hatte das Tier mehrmals hoch in die Luft geworfen. Als es auf den Boden fiel, brach es sich ein Bein. Dafür gibt es ein Jahr Gefängnis im Land der fetten Leber – Foie Gras wird aus einer stark verfetteten Leber hergestellt, den Gänsen wird in ihren letzten drei bis vier Wochen dreimal am Tag ein Rohr durch ihren langen Hals geführt und dadurch Zwangs­brei in ihre Mägen gequetscht. Foie Gras wurde zum «gastronomischen Kulturerbe» erklärt und darum vom Tierschutz ausgenommen.

Nun, der Katzenquäler wird im Gefängnis keine Foie Gras serviert bekommen, vielleicht aber Wurst von aus Deutschland importierten Schweinen, die auf Spaltenböden über ihrer eigenen Gülle leben. Schweine sind äußerst geruchsempfindlich. Der typische Schweine­geruch ist für sie unerträglich, den kennen sie nämlich nicht, der entsteht nur, wenn Kot und Urin sich mischen. Schweine legen darum getrennte Klos an. Das können sie aber nicht, wenn ihnen nach EU-Norm pro Schwein 0,75 m² zur Verfügung stehen. EU-Norm – also Gesetz.
Es gibt auch Gesetze, die Tiere schützen. Im Mai 2002 wurde in Deutschland das Tierschutzgesetz ins Grundgesetz aufgenommen. Aber für welche Tiere gilt es? Nicht für alle? Wird eine lasagne-gerechte Trennlinie gezogen zwischen Pferd und Rind? Warum? Und gibt es da nicht noch eine andere Trennlinie?
Nach einer neuen Statistik werden weltweit 70 Prozent der Anbauflächen für Tierfutter genutzt. An die Tiere wird verfüttert, was Menschen essen könnten. Aus ungefähr 10 kg pflanzlicher Nahrung wird so 1 kg tierisches Lebensmittel hergestellt. Fleisch verbraucht viel Land. Und viel Wasser. Für 1 kg Rind­fleisch werden nach Wikipedia 15.000 Liter Wasser gebraucht (Gesamtbedarf, einschließlich des Wassers, das die Pflanzen benötigen, die das Rind frisst). Auf der einen Seite werden Tiere überfüttert, sie leiden und sterben – auf der anderen Seite hungern Menschen, sie leiden und sterben. Wie rechtfertigen wir diese Trennlinie? Definiert sich nicht der Mensch als vernunftbegabtes, verantwortungs­bewusstes, für die Zukunft planendes Wesen mit Fähigkeit zur Empathie? Gehört dies nicht zur Art des Menschen? Wie wäre es denn mal mit einer Forderung nach einem artgerechten Leben für den Menschen?
Viele Fragen! Ich werde hier nicht versuchen, Antworten zu geben. Um eine Basis zu erstellen, die zu angemessenen Antworten führen kann, braucht es eine fundierte philosophische Ethikdiskussion. Dazu gibt es Bücher – in diesem Jahr erschien von Hilal Sezgin Artgerecht ist nur die Freiheit. Dieses Buch blättert den gesamten philosophischen Hintergrund auf und ist sowohl für Laien als auch für Wissenschaftler eine bereichernde Lektüre. Auf dieser Grundlage kann man Antworten finden.
Ich habe hier doch noch ein, zwei, drei Fragen: Ob Popcorn wohl noch lebt? Er ist ja kein – hm – «natürliches Tier», sondern eine – hm – «Speisepute»? Fast ein Drittel von ihm ist Brustfleisch (eben Puten­brust), seine dünnen Knochen können das nicht tragen. Er hat Schmerzen – immer Schmerzen. Nun, man wird ihm Aspirin geben, das kriegen schließlich alle Puten, 85 Prozent des in Deutschland verbrauchten Aspirin geht in die Tiermast! Oder hat man ihn in eines der in den USA entstehenden Fitnesscenter für übergewichtige Haustiere eingewiesen? Oder wurde er inzwischen eingeschläfert? Hat man ihn doch gegessen? Oder begraben? Was ist weniger absurd? Gibt es in Amerika einen Friedhof für die jährlich begnadigten Puten?
Wenn Sie Antworten auf viele dieser Fragen nicht vorfinden, aber selbst finden wollen, habe ich einen Tipp: Nehmen Sie einen Stift und einen Skizzenblock, gehen Sie auf eine Weide und versuchen Sie, eine Kuh zu zeichnen.
Sie wissen, worauf ich damit anspiele? Ah, Sie haben das Buch von Hilal Sezgin Artgerecht ist nur die Freiheit schon gelesen! Sie wissen es nicht? Dann möchte ich Ihnen meinen Rat nahelegen: Erst zeichnen, dann dieses Buch lesen. Sie werden Antworten finden.