Warum Gott den Menschen erschuf

Nr 179 | November 2014

Liebe Leserin, lieber Leser
Neulich sprach ich mit Freunden über einen Vortrag, den Rudolf Steiner an einem 13. November im Jahr 1909 in Stuttgart gehalten hatte. Nach siebenjähriger Mitteilung der Ergebnisse seiner geistes­wissenschaftlichen Forschungen innerhalb der damaligen deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft hält er es für notwendig, etwas prinzipieller über das rechte Verhältnis zu übersinnlichen Erfahrungen, über visionäres Schauen einerseits und denkendes Erkennen andererseits zu sprechen.
Da ich die Nachschrift dieses Vortrags bereits einige Male gelesen und bearbeitet, ihn selbst mit zwei weiteren Vorträgen Steiners im Band Hellsehen und Einweihung herausgegeben habe – und nicht zuletzt wegen der darin vorkommenden Empfehlung, man möge Spinozas Ethik studieren, wenn man sein Denken für spirituelle Gedanken besonders schulen möchte, sehr lieb gewonnen habe –, meinte ich, recht vertraut mit seinem Inhalt zu sein. Umso überraschter war ich von der Wucht, die eine darin vorkommende Frage und ihre anschließende Beantwortung diesmal auf mich ausübte, die Frage nämlich: «Warum haben die Götter überhaupt Menschen entstehen lassen?»
Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, beispielsweise das Alte Testament aufschlagen, erfahren Sie im Ersten Kapitel des Ersten Buches Mose, dass Gott den Menschen am sechsten Tag erschaffen hat, aber nicht, warum er das tat. Und ich kann mich zunächst an eine solche Begründung weder bei der griechischen noch bei der nordischen noch sonst bei einer Mythologie entsinnen. Steiner scheut sich nicht, am 13. November 1909 einen Grund anzugeben: «Aus dem Grunde» haben die Götter den Menschen entstehen lassen, «weil sie nur in Menschen die Fähigkeiten entwickeln konnten, die sie sonst überhaupt nicht hätten entwickeln können: die Fähigkeit zu denken, in Gedanken sich etwas vorzustellen, sodass diese Gedanken an Unterscheidungen gebunden sind. Diese Fähigkeit kann erst auf unserer Erde ausgebildet werden; sie war früher überhaupt nicht da, sie musste erst dadurch kommen, dass eben Menschen entstanden sind. … Die Götter haben den Menschen entstehen lassen, um das, was sie gehabt haben, auch noch in der Form des Gedankens durch den Menschen zu erhalten.»
Welch eine heilige Aufgabe ist das für uns Menschen, zu denken! Wir vollziehen eine Tätigkeit im gesamten, auch göttlichen Kosmos, die nur durch uns Menschen möglich ist – und Gott mit all seinen Engeln ist darauf angewiesen, dass wir von unserer Möglichkeit und Bestimmung Gebrauch machen.

Auf dass wir uns dessen jubelnd bewusst werden,
grüßt von Herzen, Ihr

Jean-Claude Lin