Börries Hornemann

Eine Favela umkrempeln

Nr 179 | November 2014

Das Lebenswerk von Ute Craemer

«Tante, ich werde jetzt hier wohnen.» Mit diesen Worten steht Sandro mit seinem kleinen Bruder eines Tages vor der Haustür von Ute Craemer. Es ist ein Winterabend in den 70er-Jahren, und Sandro, der Junge aus der Favela Monte Azul in São Paulo, ist erst fünf Jahre alt. Er hat sechs Geschwister zu Hause, die Mutter arbeitet fast rund um die Uhr, der Vater ist gestorben.
Sandro und seine Geschwister sind nicht die ersten, die bei der deutschen Lehrerin in Brasilien Unterschlupf suchen. Ute Craemers kleines Haus beherbergt nun 18 Menschen auf 40 Quadratmetern. Nachmittags kommen über 40 Kinder aus der Favela dazu, die bei ihr spielen, basteln, Hausaufgaben machen. Sie stammen aus großen Familien in winzigen Hütten – Orte der Ungeborgenheit und der Not. Ute Craemer verdient ihr Geld als Lehrerin an einer Waldorf­schule. Dass ihre Schüler aus der Oberschicht von den Slums, die weite Teile der Stadt ausmachen, so gar nichts wissen, erfüllt sie mit tiefem Unbehagen. Eines Tages lädt sie ihre Klasse zu sich nach Hause ein, um gemeinsam mit den Favelakindern zu spielen. Es ist der Beginn eines Brückenbaus über die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich.
Das Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hat diesen Sommer mit großer Geste seinen Status als siebtgrößte Wirtschafts­macht der Welt vorgeführt. Der Großteil der Bevölkerung jedoch hat am Wohlstand wenig Anteil. Fast zwei Drittel der Brasilianer leben in Favelas. Enge, Gewalt, Drogen und Perspektivlosigkeit prägen den lebensbedrohlichen Alltag; circa 50.000 Menschen kommen jährlich durch Schusswaffen ums Leben. Seit den 50er-Jahren hat eine gigantische Landflucht das Gesicht des Landes grundlegend verändert. Hungersnöte und Armut trieben seither Unmengen an Migranten in die Metropolen – die Hoffnung auf ein besseres Leben oft als einziges Gepäck. Die gigantischen Migrationsströme wurden von den Stadtplanern lange ignoriert. Bis heute siedeln sich die Neuankömmlinge am Stadtrand ohne jede Infrastruktur an. Hier entstand in den 60er-Jahren auch die Favela Monte Azul.
Ute Craemer wohnt quasi nebenan. Täglich sieht sie die nackte Not – und packt das Problem an. Allerdings nicht allein: Es gelingt ihr, in den Bewohnern der Favela den Wunsch zu wecken, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Bereits 1965 war sie als Entwicklungshelferin nach Brasilien gekommen. Die gängige Methode damaliger Entwicklungshilfe, der armen Bevölkerung Schulen und Krankenhäuser vorzusetzen und wieder abzuziehen, erschien ihr nicht nachhaltig. Sie ging ihren eigenen Weg. Die spielenden Favelakinder in ihrem Wohnzimmer waren dabei nur der Anfang. Für Ute Craemer muss Entwicklungsarbeit mit Pädagogik Hand in Hand gehen. Partizipation ist dabei von Anfang an ihr Grundsatz. Nur wer selbst etwas auf die Beine stellt, kennt den Wert der Dinge – und den eigenen.

Ute Craemer ist eine Heldin unserer Zeit – und dabei liegt ihren Führungsqualitäten eine bemerkenswerte Mischung aus Be­schei­denheit, Mut und Hartnäckigkeit zugrunde. Ihre Mit­menschen zu verstehen, ist ihr ein echtes Anliegen. Das schließt auch Kriminelle und Drogendealer nicht aus. Getragen wird sie von der Gewissheit: «Menschen verändern sich, wenn wir den Mut aufbringen, sie zu lieben.» Dem Teufelskreis aus Armut und Gewalt, den eine Generation an die nächste vererbt, setzt sie einen «Engelskreis» entgegen. So entstehen Anfang der 80er-Jahre in der Favela Monte Azul erste Kindergärten. Dafür werden Favela-Frauen zu Waldorferzieherinnen ausgebildet. Ein immer dichteres «Netz des Guten» beginnt sich durch die Favela zu spinnen, ein Netz, das die oft von klein auf traumatisierten Kinder auffängt und stützt – und das auch den Erwachsenen guttut. So sät Ute Craemer Samen der Hoffnung, im vollen Bewusstsein dessen, dass die Früchte sich nicht unbedingt sichtbar zeigen werden. Sie denkt in Perspektiven von mehreren Jahrzehnten – ja, über ein Menschenleben hinaus. Dabei sind die Rückschläge oft beträchtlich. Manche der betreuten Kinder geraten trotz aller Mühe auf die schiefe Bahn, werden drogenabhängig oder kriminell. Für Ute Craemer ist das kein Grund, das Vertrauen in die Menschen zu verlieren. «Wenn man das ‹Scheitern› nennt», sagt sie, «dann geht man ja davon aus, dass es einen Endpunkt gibt. Einen Zeitpunkt, zu dem man weiß, ob eine Sache richtig oder falsch war. Ich glaube nicht, dass es diesen Punkt gibt, selbst im Tod nicht. Man muss etwas tun, darin liegt der Wert – was dabei herauskommt, weiß man nicht.» Sie konstatiert: «Es braucht Mut, an diese Menschen zu glauben.» Dabei geht auch ihr dieser Mut bisweilen aus – Erschöpfung und Depression kennt sie aus eigener Erfahrung. Neuen Lebensmut geben ihr in solchen Phasen die Favela-Bewohner: Frauen am Existenzminimum, oft vom trinkenden Mann geschlagen, die dennoch die Kraft finden, mit einer in eine Blechdose gesteckten Blume ein bisschen Freude in ihre ärmliche Hütte zu bringen.
Über die Jahrzehnte wächst die soziale Organisation Associação Comunitária Monte Azul heran und hat heute weit über Brasilien hinaus Vorbildcharakter. Freiwillige Mithelfer und Spendengelder machen es möglich – damals wie heute. Die medizinische Versorgung, die Krippen, Kindergärten, Horte, die Waldorfschule, das Kulturzentrum, die Bibliotheken und Berufsaus­bildungen erreichen etwa 30.000 Menschen. So ist etwas entstanden, was manche das «Wunder von Monte Azul» nennen – in der Favela gedeiht ein reiches, sich selbst tragendes Gemeinschaftsleben.
Ute Craemer hatte nie einen Masterplan. Vielmehr wurde sie im Lauf der Jahre vom Erfolg ihrer Arbeit fast überholt. Sie hadert mit ihrer Führungsrolle, weiß um ihre Schwächen und motiviert andere, ihr Potenzial zum Wohl der Gemein­schaft einzusetzen. Echte Kraftquelle und reicher methodischer Fundus sind ihr dabei Anthroposophie und Waldorfpädagogik.
Monte Azul steht heute auf eigenen Beinen; die Gründerin ist mittlerweile 76 Jahre alt und für die Organisation nur noch beratend tätig. Darüber hinaus setzt sich Ute Craemer heute weltweit für den Schutz der Kindheit ein und spinnt ihr Netz weiter. Ein Netz, das Menschen in Wärme und Begegnung verbinden will, über soziale und kulturelle Gräben hinweg.