Christian Hillengaß

Gedankengänge durch Heidelberg

Nr 180 | Dezember 2014

Ein Einzelner, der seines Weges schreitet. Einfach so, ohne sicht­bares Ziel. In sich gekehrt, einem Gedanken nachgehend oder etwas betrachtend, das ihm ins Auge gefallen ist. Vielleicht kurz nur im Vorübergehen, vielleicht länger. Vielleicht einen Baum, einen Raben, der mit einer Elster zankt, eine Bergkuppe, einen Fluss im Tal oder die rotgedeckten Dächer einer alten Stadt. Vielleicht auch ein Bild aus seinem Inneren, das in der Weite der Landschaft Raum bekommt. Vielleicht ist das ein Philosoph. Vielleicht auch nicht.
Ein alter Winzerweg, der sich an den sonnenverwöhnten Hängen gegenüber Heidelbergs Schloss und Altstadt entlang zieht, hat schon viele solcher Gestalten gesehen. Ob es Philosophen waren oder nicht – sie erfüllten zumindest eine Eigenschaft, die man den Freunden der Weisheit nachsagt: einzeln und nachdenklich voranzuschreiten. So bekam der Weg den Namen «Philosophenweg». Nicht zu Ehren eines bestimmten Philosophen also, sondern aufgrund «der seltsamen Neigung, die im 18. Jahrhundert, im Zeichen Rousseaus erstmals die Menschheit ergriff: allein Spazieren zu gehen». So erzählte es zumindest Hans-Georg Gadamer, der letzte große Philosoph, der ein halbes Jahrhundert lang in Heidelberg gelebt und gewirkt hat.

Wer das erste steile Stück des Philosophenwegs auf sich genommen hat, erblickt die Stadt von ihrer schönsten Seite. Wie idealisiert in eine Landschaft hineingemalt, in die Schloss, Fluss und die alte Brücke nicht besser passen könnten, liegt sie da. Im Westen reicht der Blick bis nach Frankreich, wo fern am Horizont die Vogesen grüßen. Der Philosophenweg ist ein Weg, der Augen, Herz und Sinne öffnet. Stets ist es hier oben ein paar Grad wärmer als an anderen Orten der Umgebung. Palmen und andere exotische Pflanzen gedeihen im Mikroklima, alte Obstgärten liegen halb verwildert links und rechts des Weges und Eidechsen huschen über alte Trockensteinmauern, wenn sie der Schatten eines Spaziergängers berührt.
Wenn zu den Randzeiten des Tages oder des Jahres der Strom der Touristen abebbt, dann lässt sich noch etwas vom alten Zauber spüren, den die Dichter der Romantik hier erlebten, als sie den Weg für sich entdeckten und Heidelberg mit ihren Liedern rühmten. Allen voran Friedrich Hölderlin mit seiner Ode: Lange lieb’ ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, / Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied, / Du, der Vaterlandsstädte / Länd­lichschönste, soviel ich sah.
So ist es eigentlich ein Dichterweg, der Philosophenweg genannt wurde. Aber vielleicht weist gerade das auf die feine Verwandtschaft von Philosophie und Lyrik hin, von der die Stadt erzählt, wenn man ihr lauscht; wenn man die Schritte ein paar Einzelner verfolgt, die hier ihre Spuren hinterließen. Dann schimmert ein feines Netz von Wegen auf, die sich berühren, kreuzen, wegführen und wiederkehren. Dichterwege, Denk- und Schicksalswege. Oder: Philosophenwege.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Als Gadamer Anfang der 1920er Jahre Heidelberg zum ersten Mal besucht, erscheint ihm die Stadt «als die schönste, intimste und weltoffenste von allen» – und er verspürt den «tiefen Wunsch, hier einmal zu lehren». Immer wieder wird er in seinem philosophischen Forschen auch die Dichter befragen, überzeugt davon, «dass zwischen der Sprache der Dichtung und der Sprachfindung des philosophischen Gedankens eigentümliche Fäden hin und her laufen».
«Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit», schreibt Hannah Arendt in ihr Denktagebuch, «von den Philosophen nur Ge­dachtes». Um die Zeit, als Gadamer zum ersten Mal hier ist, kommt sie als junge Studentin der Philosophie nach Heidelberg. Hölderlin-Verse füllen die Liebesbriefe, die sie mit einem Mann wechselt, aus dessen mächtiger Aura sie eigentlich flieht, um hier ein Eigenes zu finden. Dieser Mann ist einer der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit: Martin Heidegger. Bei einem Freund von ihm, Karl Jaspers, promoviert sie 1928 über den Liebesbegriff bei Augustin.
Jaspers ist wie Heidegger einer, der eigenes Denken wagen will, anstatt nur altes Wissen zu verwalten. Der studierte Mediziner hat sich als Psychologe bereits einen Namen gemacht, bevor er den Lehrstuhl für Philosophie übernimmt. Das eine schließt für ihn das andere nicht aus: «Mein Gebiet ist der Mensch, zu nichts anderem hätte ich dauernd Fähigkeit und Lust.» Auch für ihn ist die Philo­sophie ein Unterwegssein, allerdings kein strenges Alleingehen wie für Heidegger, sondern ein Weg, der auch durch Kommunikation voranführt: «Der Einzelne für sich allein kann nicht vernünftig sein.» Das Ziel des Weges verlegt er in die Unendlichkeit, um nicht in der trügerischen Sicherheit einer vermeintlichen Wahr­heit stehenzubleiben. Bei all seinem denkerischen Fortschreiten gesteht er jedoch auch, daran zu leiden, dass er zu wenig träumt. «Die Fantasie» sei «doch der Weg zur tiefsten Wahrheit und Wirk­lich­keit». Die Dichter würden ihm zustimmen.

Eine andere Dichterin, die damals noch nicht weiß, dass sie eine ist, sitzt in seinen Vorlesungen: Hildegard Dina Löwenstein, besser bekannt unter dem Namen, den sie sich später im Anklang an ihr Exil in der Dominikanischen Republik gibt: Hilde Domin. Neben ihr sitzt ein junger Mann, Erwin Walter Palm. Sie sind sich zu Anfang des Sommersemesters in der Mensa im Marstallhof be­gegnet, in dessen alten Mauern auch heute noch die Studenten speisen. Es ist der Anfang ihres «Lebensgesprächs», fünf Jahre später werden sie heiraten.
Jaspers doziert über die «Grenzsituation», die Erfahrung von Krisen, Krankheit oder Tod, die den Menschen an die Grundfragen seiner Existenz führt und somit der eigentliche Ursprung der Philosophie sei. Die «Grenzsituation» eröffnet die Chance der Selbsterkenntnis. Jaspers fasst es im Satz zusammen: «Im Scheitern kommt der Mensch zu sich selbst». – «Ein Satz, den auszuprobieren wir Gelegenheit hatten», schreibt Domin rückblickend.
In der Tat hält die Zukunft Grenzsituationen bereit. Nicht nur für Palm und Domin, die ebenso wie Hannah Arendt wegen ihrer jüdischen Herkunft durch die Nazis ins Exil gezwungen werden. Auch für Jaspers, dessen Frau Jüdin ist und der mit Berufsverbot belegt wird, weil er weiter zu ihr steht. Ein altes Schwarzweißfoto zeigt den großen, hageren Mann, wie er nach seiner Absetzung mit weit ausholendem Schritt, tiefsitzendem Hut und hochgestelltem Mantelkragen die Universität verlässt – ein Einzelner, der seines Weges schreitet. Seine Beziehung zu Heidegger erreicht den Tiefpunkt, als dieser mit Lederhosen und Hitlergruß zu einem Gastvortrag in Heidelberg erscheint. Täglich muss mit der Deportation gerechnet werden. Zyankalikapseln auf dem Nacht­tisch sollen für diesen Fall die allerletzte Flucht ermöglichen.
Doch der Griff zum letzten Mittel bleibt dem Ehepaar Jaspers erspart. Am Karfreitag, dem 30. März 1945, wird Heidelberg von amerikanischen Truppen befreit. Ihre Depor­tation, so erfahren die beiden später, war auf den 14. April angesetzt gewesen. Zehn Jahre nach seiner Entlassung durch die National­sozialisten kann Jaspers seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. «Ich fahre fort, wo wir stehengeblieben waren», beginnt er seine erste Vorlesung.
Die Hungerzeit nach dem Krieg wird durch Versorgungspakete gemildert, die Hannah Arendt aus dem New-Yorker Exil schickt. Jaspers engagiert sich im Wiederaufbau der Universität, dann bekommt er einen Ruf nach Basel, dem er folgt. Es ist ein Weg­gehen, nachdem Heidelberg durch 40 Jahre Heimat, «geistig die einzige Heimat», geworden war. «Jetzt, dazu im Alter, sollten wir uns trennen? Hart schien es, und dann wieder wie eine Befreiung.»

Hans-Georg Gadamer tritt seine Nachfolge an, der tiefe Wunsch von damals, «hier einmal zu lehren» erfüllt sich. Die Anreise führt durch zerbombte Städte. Als er Heidelberg erreicht, empfindet er «so etwas wie Rührung. Welch ein Geschenk, dass diese einzig­-artige Stadt von den Zerstörungen verschont geblieben war.»
Für Hilde Domin sind 22 Jahre vergangen, als sie zum ersten Mal wieder deutschen Boden betritt. Erst jetzt veröffentlicht sie ihre ersten Gedichte. 1960 erhält ihr Mann eine Professur in Heidelberg, und so kehren sie nach langer Zeit und weiten Wegen an den Ausgangspunkt ihrer Odyssee zurück. Nicht nur deshalb bezeichnet Gadamer sie in einer Rede als die «Dichterin der Rückkehr», sondern auch weil er im Dichten eine Bewegung von Aufbruch und Wiederkehr sieht; das Verlassen des Gewöhnlichen, hinein ins Wortlose und die Rückkehr in die Sprache, die für Domin zur eigentlichen Heimat wird. Hier liegt auch für ihn die Verwandtschaft von Dichtern und Philosophen: «Dass wir immer wieder aus dem Selbstverständlichen auswandern – wir nennen das Denken – und zurückkehren in ein Andersgewordenes – wir nennen das Er­kenntnis. Nur weil wir selber so gehen, gehen wir auch mit dem Dichter mit.»
Vermutlich braucht es für das Gelingen eines solchen Unterfangens eine Standfestigkeit, die nicht im Räumlichen verortet ist. Um es mit den Worten der Dichterin zu sagen:

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Wie der Philosophenweg ist auch der Heidelberger Bergfriedhof ein Ort, der poetisch und philosophisch zugleich ist. Im Gegensatz zu Ersterem fällt es hier jedoch leicht, alleine zu sein. Ein Ge­heimtipp, wenn man so will. Weit oben am Hang, am Ende einer kleinen Treppe steht ein Satz auf einem Grabstein: Wir setzten den Fuß in die Luft und sie trug – als wären Hilde Domin und Erwin Walter Palm nach dem Ende der Stufen einfach weitergegangen.
Durch die Bäume fällt der Blick auf die Weite der Rheinebene. Von dort weht oft ein frischer Wind, ganz anders als in den Gassen der Altstadt, wo die Luft zuweilen steht. Wer sich nicht wie ein Tourist auf Kurzbesuch an all dem Alten freuen kann, der wird vielleicht das erdrückende Gewicht spüren, mit dem der Mythos vom romantischen Alt-Heidelberg dort auf den Sandsteinmauern lastet, tagtäglich neu geschürt und fotografiert. Wer es könnte, mag sich ein Solcher denken, Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / daß der Wind / hindurchfährt. Und wie ein heimlicher Gruß werden ihm die Initialen der Dichterin von einem der örtlichen Auto­kenn­zeichen winken.
Wenn er dann auf die Alte Brücke tritt – einer der wenigen Orte, wo in Heidelberg tatsächlich der Wind bläst – und um sich blickt, werden ihn vielleicht, wie Gadamer es schildert, «die unveränder­-liche Bestimmtheit der Berglinien, die die menschlichen Dinge und Bedingtheiten umrändern, mit Melancholie anrühren. Nicht nur die schicksalskundige Burg dort oben liegt in Trümmern. Alle menschlichen Geschicke gehen solchen Lauf. Und doch, wenn er den Blick flussabwärts schweifen lässt und der abendliche Himmel alles mit seinem Widerschein verklärt, dann mag er auch umgekehrt spüren, wie viel einem jeden Leben gewährt ist: von seiner Begrenztheit und Bedingtheit der Anfänge her ins Freie zu führen, in eine unbekannte Weite, in die sich langsam der eigene Weg einzeichnen wird.» Und da sind sich Philosoph und Dichter ganz nahe. «So komm!», würde Hölderlin ihm sagen, «dass wir das Offene schauen / dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.»