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Ute Hallaschka

Die Kunst der Seele

Nr 180 | Dezember 2014

Wie sehen wir eigentlich konkret die Welt ein? Mit welchem Wahrnehmungsorgan spüren wir atmosphärisch die Umgebung ab, sodass wir das Wesentliche erfassen? Was im Alltag unbemerkt bleibt, wird uns im Erleben des Künstlerischen fühlbar. Wir tragen ein Schwingungsvermögen in uns. Es ist eine freie Beweglichkeit in der Seele, mit der wir empathisch die Welt abtasten. Wie das genau vor sich geht, wo der Wille zum Mitschwingen wurzelt, wie wir die Form finden, in die wir unsere Spiegelneurone bringen – das scheint eine naturwissenschaftliche Fragestellung.
Doch die Empirie des Kunstwerks – so wie wir es unmittelbar erleben – kann uns in dieser Frage weiterkommen lassen, als wir denken. Ein Musikstück zeigt sich uns physisch unsichtbar, wir hören es scheinbar nur. Doch es ist wesentlich wirksam in uns. Innerlich spielt sich seine Bewegung in der Seele ab. Dort spüren wir sie und lassen uns von ihr ergreifen und mitnehmen. Die Bewegung wird in uns Gefühlsgestalt. Materiell gesehen ist sie unsichtbar, und doch wird Musik von jedem Hörer wahrge­nommen – und aus dem eigenen Herzen hervorgeschöpft ins Wirkliche. Wie machen wir das?
Der erweiterte Kunstbegriff der Moderne lässt uns die gegenseitige Beziehung erkennen, ohne die kein Kunstwerk sein kann. Er vermittelt die Erfahrung, wie das Publikum tatsächlich auf Augen­höhe mit dem darstellenden, dem ausübenden Künstler kommuniziert. In der Wechselbeziehung, der gemeinsamen Hervor­bringung des Werkes ist jeder ein Künstler, ein Mitspieler. Das Werk er­eignet sich im Augenblick der zwischenmenschlichen Begegnung.
Eurythmie ist eine Kunst, die sich der Beziehungserfahrung in besonderer Weise widmet. Was der Musiker freispielt, instrumental als Stimmung erklingen lässt, das figuriert die eurythmische Dar­stellung leiblich. Ihre Gestik transzendiert den Körper zur musikalischen Gestalt. Der Zuschauer wird der Dritte im Bunde bei dieser buchstäblichen Übersetzung der musikalischen Erfahrung ins Sichtbare. Was sich sonst verborgen in der Seele zuträgt, ihre empathische Bewegung, wenn sie sich einstimmt und mitschwingt, wird anschaulich.
Um sich selbst als Seelenkünstler am Werk zu erfahren, dazu gibt ein neues eurythmisches Bühnenprogramm nun Gelegenheit: KONTRASTE KlangGeste – Musik und Eurythmie wird an bedeutenden Spielstätten in der Schweiz und Deutschland aufgeführt. Eine Koproduktion des Musikkollegium Winterthur, (Musikalische Leitung: Ruben Dubrovsky), mit dem Else Klink-Ensemble Stuttgart (Künstlerische Leitung für die Eurythmie hat das bewährte Duo Benedikt Zweifel und Carina Schmid). Das renommierte Schweizer Orchester hat Musikgeschichte geschrieben und die Zusammenarbeit dieser beiden Choreo­graphen bietet einen einzigartigen Erfahrungsschatz.
Das Programm selbst erschließt einen musikalischen Weg vom Gesamtkünstler Richard Wagner über die meditativen Klang­schöpfungen von Anton Webern, die am Beginn der Moderne zu verorten sind, bis zum kulturellen Dialog mit der Gegenwart, hin zu einer Komposition des 1970 in Buenos Aires geborenen Oscar Strasnoy.
Was aber fangen wir in dieser Klangreise durch die Zeit mit der Komposition von Franz Schubert an, die auch Teil des Pro­gramms ist? Spielt seine Tragische Sinfonie in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Wie lässt sich individuell erlittenes Leid in die Geste des Schöpferischen verwandeln? Das ist eine hoch­aktuelle Kulturfrage, auf deren Ausgang jeder Zuschauer gespannt sein darf. Die Antwort findet sich nirgendwo anders als in der eigenen Seele.