Jesse Browner im Gespräch mit Jean-Claude Lin

Sich selbst sehen lernen

Nr 182 | Februar 2015

Seit einigen Monaten wird insbesondere auf einigen einschlägigen Blogs im Internet die deutsche Ausgabe des Romans «Everything happens today» («Alles geschieht heute») des amerikanischen Autors Jesse Browner über das erste Mal eines Siebzehnjährigen heiß diskutiert. Nachdem der Roman in Amerika mit dem Klassiker von J.D. Salinger, «Fänger im Roggen», verglichen wurde und bereits auf Italienisch vorliegt, soll nun auch eine niederländische Ausgabe erscheinen. Im New Yorker Künstlerviertel sprachen wir mit dem Schriftsteller, Essayist, Übersetzer, Literatur- und Kochkunstkenner Jesse Browner: Wie ist ein Leben im Hinblick auf seinen Erfolg zu beurteilen? Was kann die Kunst? Welchen Anteil hat ein Mensch am eigenen Glück? Zu ziemlich ungewöhnlicher Tageszeit hatte er angeboten, ein Gespräch mit ihm zu führen: morgens um halbacht!

Jean-Claude Lin | Wie kommt es, Jesse, dass Sie so früh aufstehen?
Jesse Browner | Das liegt ganz einfach daran, dass ich Vollzeit arbeite und infolgedessen schreibe, bevor ich zur Arbeit gehe.

JCL | Vor der Arbeit? Viele Schriftsteller schreiben bis tief in die Nacht.
JB | Ich war immer schon ein Frühaufsteher, deshalb fange ich lieber früh an und kann mich so in meiner Bestform dem Schreiben widmen. Aus diesem Grund schreibe ich jeden Tag drei Stunden lang, bevor ich mich fertigmache und zur Arbeit gehe.

JCL | Sie haben mehrere Romane geschrieben. Schreiben Sie auch noch anderes?
JB | Gerade habe ich ein Sachbuch abgeschlossen. Es ist erst mein zweites, im ersten ging es um die Geschichte der Gastlichkeit in westlichen Kulturen von den alten Griechen bis zu Hitlers Adler­horst: The Duchess who wouldn’t ist down.

JCL | Worum geht es im neuen Buch?
JB | Es handelt sich um eine Art erweiterten philosophischen Essay über das Wesen der Arbeit. Es ist schwer zu beschreiben. Meine Frau, die als Lektorin arbeitet, bringt mir gerade bei, wie ich den Inhalt sehr schnell schildern kann. Auf Englisch bezeichnen wir das als «Aufzugsrede», als müsste man jemandem, mit dem man Aufzug fährt, das Buch beschreiben, bis man angekommen ist. Das Buch entstand aus einem langen persönlichen Essay, den ich vor drei Jahren in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht habe. Es geht darum, wie es ist, wenn man als Schriftsteller Vollzeit arbeitet, und woher man weiß, ob man bezüglich seiner Ziele erfolgreich war oder gescheitert ist. Mit Zwanzig lebte ich hier in New York auf der Lower East Side wie ein Bohemien. Ich habe kein Geld verdient und stattdessen nachts in Bars geschrieben, jeden Tag. Ich lebte mein Leben so, wie ich es mir für die Zukunft vorgestellt hatte. Nachdem ich geheiratet habe und Vater geworden bin, musste ich mich aber entscheiden, ob ich so weitermachen wollte. Dann hatte ich richtig Glück. Die Vereinten Nationen boten mir in einem kleinen Übersetzungsbüro einen Teilzeitjob an, der aber sehr gut bezahlt war – ich musste nur etwa zehn Wochen im Jahr wirklich arbeiten. Besser kann man es als Schriftsteller nicht treffen. Mittlerweile hat sich die Welt verändert, jetzt bin ich dort Chef. Ich muss lange arbeiten, es ist sehr anstrengend und überhaupt nicht so, wie ich mir mein Leben vorgestellt hatte. Ich wäre sehr viel lieber nur Schriftsteller. Ich habe aber zwei Kinder – und das Leben in New York ist teuer. Glücklich bin ich trotzdem.
Der besagte Essay durchleuchtete also von allen Seiten, wie Künstler leben und ob ein Künstler dieses Künstlerleben führen und dafür persönliche Opfer bringen soll. Außerdem ging es darum, ob das Geldverdienen meine schriftstellerische Arbeit negativ, oder – wie meine Frau meint – positiv beeinflusst hat. Der Essay entstand auch als Reaktion auf einen Artikel des britischen Romanautors Geoff Dyer im Atlantic Magazine. Dyers Leben entspricht genau seinen Wünschen, er muss niemals etwas tun, was er nicht möchte, und muss keine Aufträge nur wegen des Geldes annehmen oder etwa unterrichten. Als ich diesen Artikel las, versetzte er mir einen Stich ins Herz, und innerhalb von drei Tagen schrieb ich meinen Essay.

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Fotos: © Christoph Jeremias Lin | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

JCL | Doch dabei blieb es ja offensichtlich nicht.
JB | Nein, als er veröffentlicht wurde, rief mich meine Verlegerin an und sagte: «Ich finde, du solltest ein Buch über das Thema schreiben.» Nach längerem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass ich kein Buch über mich selbst schreiben wollte. Das war mir als Thema nicht wichtig genug. Infolgedessen überlegte ich, wie ich das Thema, das eigene Leben so zu leben, wie es einem entspricht, weiter fassen könnte. Es sollte auch nicht nur um Schriftsteller oder andere Künstler gehen. Jeder von uns trifft in jungen Jahren Entscheidungen, ohne vorhersehen zu können, wie sich diese Ent­scheidungen durch sein ganzes Leben ziehen. Ich bin jetzt über fünfzig – wie hätte ich vor fünfundzwanzig Jahren ahnen können, welche Auswirkungen meine damaligen Entscheidungen haben würden? Und wie halten wir an dem fest, was wir in uns selbst für wahr halten? Mehr noch: Wie entwickeln wir ein ausreichendes Verständnis unserer selbst, um unsere ureigene Wahrheit zu er­kennen und zu sehen, was wir brauchen und was wir wollen? Über dieses Thema kann man locker ein dickes Buch schreiben. Und das habe ich dann getan. Es ist erst mein zweites Sachbuch, aber ich weiß nicht, ob ich jemals wieder ein Sachbuch schreiben werde.*

JCL | Einer meiner Lehrer sah mich einmal mit einem Roman in der Hand und fragte: «Liest du viele Romane?», worauf ich antwortete: «Ja, ich lese gerne Romane.» Ich fragte zurück: «Und, lesen Sie Romane?» Darauf erwiderte er: «Nein! Ich lese ausschließlich Sachbücher, weil Romane nichts über die Wahrheit aussagen.» Das fand ich recht sonderbar. Warum schreiben Sie Romane, Jesse? Warum brauchen wir erfundene Geschichten?
JB | Ich hoffe, es versteht sich von selbst, dass die Wahrheit eines Romans – vorausgesetzt, es handelt sich um ein wahrhaftiges, aufrichtiges Buch, das gut geschrieben ist – in Wirklichkeit eine sehr viel höhere und verdichtete Wahrheit formuliert als jene eines Sachbuchs. Diese Wahrheit kann man nicht mit dem Verstand verstehen, sondern nur mit dem Herzen. Es muss keine emotionale Wahrheit sein, das Wort «Herz» ist vielleicht falsch gewählt. Es klingt so romantisch, aber das meine ich nicht. Doch es ist eine Wahrheit, die sich in Wörtern niederschlägt. Wenn ich ein Sachbuch schreibe, muss ich meine Ideen eingehend erklären, denn die Idee existiert ohne Erklärung nicht. Im Gegensatz dazu erwacht eine Idee in einem Roman dadurch zum Leben, dass sie gezeigt wird. Und eine veranschaulichte Idee ist mir wichtiger als eine, die nur mit Worten erklärt werden kann. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke – ich habe nie zuvor auf diese Art darüber nachgedacht oder gesprochen. Ich habe in letzter Zeit viele mittel­europäische Romane gelesen, Stefan Zweig und einige Ungarn …

JCL | Esterházy? Sándor Márai?
JB | Ja! Esterházy und Sándor Márai. Die Glut ist ein wundervolles Buch! Márai ist fantastisch! Beim Schreiben meines Romans The Uncertain Hour hatte ich ihn im Sinn. Auch ich möchte meine Romane schmaler und immer schmaler machen, bis … Nun ja, sie können nicht verschwinden …

JCL | Es wäre zu schade, wenn sie verschwänden, dann könnten sie sich ja gar nicht zeigen. (Beide lachen.)
JB | Wissen Sie, es soll wenig passieren, möglichst wenig. In beiden Romanen nimmt die Handlung keine zwölf Stunden ein. Ich könnte bis an mein Lebensende Bücher schreiben, die höchstens vierundzwanzig Stunden abbilden – in Die Glut spielt sich zum Beispiel alles in drei, vier Stunden ab: Zwei Männer unterhalten sich, und selbstverständlich erinnern sie sich an ihr Leben, aber die Geschichte besteht darin, dass zwei Männer am Feuer sitzen und über die Vergangenheit reden.

JCL | Warum möchten Sie sich so kurz fassen?
JB | Die echte Wahrheit ist immer die einfachste. Sie ist tief. Bodenlos. Sie ist kein Meer, sondern ein Brunnen. Wenn man hineinsieht, kann man den Grund nicht sehen. Wenn man in ein Meer blickt, weiß man eigentlich nicht, was man vor sich hat. Doch bei einem Brunnen kann man hoffen, etwas zu verstehen, selbst wenn es eine Illusion ist. Warum sollte man eine Geschichte also mit vielen Figuren bevölkern? So viele Menschen braucht man nicht. Man braucht nur zwei Menschen, die miteinander kommunizieren. Man braucht eine schlichte Geschichte über eine Enttäuschung, eine Lüge oder eine Liebe. Mehr ist gar nicht nötig, und es ist genug, um die Wahrheit eines Menschen zu fassen.

JCL | Mehr bedarf es nicht?
JB | Ich denke, auch der kleinste Wassertropfen enthält die Wahrheit – und die Wahrheit eines ganzen Lebens ist in jedem Augenblick dieses Lebens enthalten. Es geht also wieder um den lebenslangen Lernprozess, Dinge wegzulassen, statt welche hinzuzufügen. Ich war ein absoluter Spätzünder, meine ersten beiden Bücher waren nicht sonderlich gut. Gute Bücher habe ich erst geschrieben, als ich schon über 40 war. Ich bin immer noch nicht da, wo ich sein will, noch lange nicht. Aber ich nähere mich dem an, indem ich begreife, dass ich mein Leben lang Dinge weglassen und nicht hinzufügen sollte. Denn das, was ich erstrebe, ist nicht kompliziert, sondern einfach. Leider weiß ich noch nicht, was es ist, aber das Vatersein hat mich viel über Einfachheit gelehrt sowie darüber, was im Umgang mit anderen Menschen wirklich wichtig ist und wie wesentlich es ist, Moral und Liebe zu leben. Aber man muss ein Leben lang daran arbeiten. Ich bin jetzt dreiundfünfzig und glaube nicht, dass ich jemals dorthin gelange, wohin ich möchte. Vor etwa zehn Jahren habe ich das Buch eines französischen Schriftsteller, übersetzt. Der Neuro­biologe Matthieu Ricard hörte auf zu arbeiten, um buddhistischer Mönch zu werden, und steht jetzt als Abt einem tibetischen Kloster in Nepal vor. Er schreibt wunderschön und hat ein Buch über das Glück mit dem Titel Plaidoyer pour le bonheur (Glück) verfasst. Es war ein Vergnügen, es zu übersetzen. Ich bin kein Buddhist, aber ich bin jeden Morgen um vier Uhr aus dem Bett gesprungen und an meinen Schreibtisch geeilt, um es zu übersetzen. Ich wusste gar nicht, wie viel ich unbewusst aufgesaugt hatte, bis ich eines Tages mit meiner Hündin Gassi gegangen bin. Ich liebe meine Hündin, sie ist wundervoll, mittlerweile ziemlich alt und trotzdem noch gut zu Fuß. Aber sie läuft nicht in einer Tour, sondern schnüffelt dauernd hier und da. Früher hat mich das wahnsinnig gemacht. Ich dachte, wenn man Gassi geht, muss sich ein Hund bewegen und läuft und läuft und läuft mit einem mit. Eines Morgens ist mir klar geworden, dass es bei diesem Gang um meine Hündin geht und dass ich sie deswegen tun lassen sollte, was sie möchte, und ich auch mir durch meine Ungeduld nur selbst alles verleide. Danach konnte ich plötzlich vieles loslassen. Das hört sich jetzt sehr spirituell an, aber so ist es nicht gemeint. Mir ist das wirklich enorm schwer gefallen. Mit dem Schreiben läuft es im Grunde auf dasselbe hinaus, die einfachsten Dinge sind am schwierigsten, doch sobald man sie gemeistert hat – nicht, dass ich es schon geschafft hätte, aber ich bin auf dem richtigen Weg – sind sie alles entscheidend.