Kate Milford

My secret Brooklyn

Nr 182 | Februar 2015

Jeder Schriftsteller hat sein eigenes Mittel gegen eine Schreib­blockade. Wenn es bei mir so weit ist, fahre ich nach Brooklyn. Ich habe mir eine Art Pilgerpfad ausgedacht. Meistens schaffe ich nicht die ganze Strecke an einem Tag, besonders wenn ich bei Sonnenuntergang in Coney Island sein will. Aber heute werde ich es versuchen.
Coney Island ist nicht der südlichste Punkt von Brooklyn, aber es liegt doch ziemlich weit unten, am Ende der beiden schäbigsten und unpünktlichsten U-Bahn-Linien der ganzen Stadt. Der Kultfilm The Warriors (1979) zeigt, wie schwierig es sein kann, nach Coney Island zu kommen: Eine Gang braucht dafür eine ganze Nacht, nachdem ein Treffen der Gangs von New York City in der Bronx ein blutiges Ende genommen hat. Aber egal, wie man dorthin kommt oder wie lange es dauert: Coney Island ist etwas Besonderes.
Das City Reliquary, eine Art Heimatmuseum der Stadt New York, liegt am weitesten nördlich, also mache ich dort zuerst halt. Ich empfinde es irgendwie als quälend, über Orte zu schreiben, die man liebt. Das geht mir bei Brooklyn so – es gibt einfach zu viel, zu viel Geschichte, zu viele Geschichten, zu viele Charaktere. Das ist einer der Gründe, warum ich das winzig kleine Schaufenster des Museums so mag. Was mit Worten nicht gelingen will, gelingt hier mit Sachen: Haufenweise liegen Artefakte herum, die für sich selbst sprechen und die Stadt zum Leben erwecken. Die ständige Sammlung des Museums ist sowohl ein Tribut an New York City als auch eine Hommage an die Sammlerwut. Dabei wirkt der Innenraum gar nicht wie ein Museum, sondern eher wie ein aufgeräumter Dachboden. Es gibt einen Schrein für Jackie Robinson, den legendären Baseballspieler, eine Kollektion von Seltzer-Flaschen, einen Schaukasten mit geologischen Proben, eine Vitrine voller Andenken an die Freiheitsstatue und einen ganzen Zeitungskiosk mitsamt Inhalt. In einem leeren Schaukasten, in dem eigentlich die Stalaktiten ausgestellt sein sollten, liegt ein Zettel, auf dem «in Kürze fertig» steht. Er liegt da schon eine ganze Weile.
Andere Leute gehen in die Kirche, wenn sie Ruhe, Inspi­ration und eine Perspektive suchen. Ich gehe zu Orten wie diesem. Die Ideen erwachen blitzartig zum Leben wie das Licht, das sich in dem Globus spiegelt (ein Souvenir der Weltaus­stellung) und in den Verschlüssen der blauen Seltzer-Flaschen. Warum liegt eine Dose mit Leukoplast in dem Schau­kasten neben dem Uhren­ständer mit dem kleinen Vogel auf der Spitze? Und was um alles in der Welt ist dieses merkwürdige Ding, das an der Decke hängt? Die Be­schriftung «1991 auf einem Berg in der Türkei gefunden» hilft mir nicht weiter. Ich könnte fragen, werde es wahrscheinlich auch tun – aber immer mit der Ruhe. Ich will natürlich die Tatsachen wissen, aber die Faszination, das Mysterium und die Rätsel, die von diesem Ort ausgehen, haben ihre eigene Magie.

Es ist immer noch mitten am Tag, als ich das City Reliquary hinter mir lasse, aber wie wir aus The Warriors wissen, ist es unmöglich, in weniger als acht Stunden nach Coney Island zu kommen. Egal, wo man sich befindet. Allerdings mussten die Warriors mit der U-Bahn fahren, ich habe ein Auto. Sie waren in der Bronx, während ich bereits in Brooklyn bin. Wenn mir der Verkehr wohlgesinnt ist, schaffe ich es, bevor die Sonne untergeht. Manchmal hilft mir Bruce Springsteen dabei, die Ampelschaltung zu meinen Gunsten zu beeinflussen. Wenn ich Born to Run spiele, schaltet eine nach der anderen auf Grün.
Auf dem Weg nach Süden fahre ich an den Metalltürmen der Brücken von Williamsburg und Manhattan vorbei, und dann kommen die hoch aufragenden Steinbögen meiner geliebten Brooklyn Bridge. Mein Lieblingsblick ist der von einer U-Bahn, die über die Manhattan Bridge fährt, und zwar bei Sonnen­untergang: Im Hintergrund greifen die Masten der Großsegler im South Street Seaport in den Himmel, und der Stein der Brooklyn Bridge nimmt bei einem bestimmten Lichteinfall einen zarten Apricot-Ton an. Und wenn man an einem Wintertag, wenn die Brücke mit Schnee überpudert ist, hinübergeht, wandert man in einem Zauberland.
Wie durch Zauberei finde ich einen Parkplatz – direkt unter der Brücke und sogar kostenlos, was in dieser Gegend eine absolute Seltenheit ist. Gepflasterte Straßen führen zum Brooklyn Bridge Park, wo drei Bräute und ein Mädchen in einem grell pinkfarbenen Abendkleid in Richtung Ufer staksen wie riesige exotische Vögel, die das letzte Tageslicht erhaschen wollen.
Auf der anderen Seite des Flusses leuchtet Manhattan, und das Glühen auf den Glasscheiben, die das Karussell am diesseitigen Flussufer umgeben, ist eine unmissverständliche Warnung, dass ich meinen Besuch hier nicht zu lange ausdehnen sollte, wenn ich vor Einbruch der Nacht in Coney Island sein will. Durch einen Tunnel aus Streben, die ein sehr altes Lagerhaus aus Backstein stützen, gehe ich zurück zum Auto. Hier ist es so dunkel, dass die Lampen an der Decke des Tunnels bereits eingeschaltet sind. Man fühlt sich in diesem Tunnel wie in einem Hohl­weg. Die rostigen Doppeltüren des Lagerhauses sind mit Graffiti überzogen, und hin und wieder späht ein Gesicht heraus wie eine Nymphe, geboren aus Kreide, Ölfarbe und Eisen.

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Fotos: © Kate Milford | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Es sind Erlebnisse wie dieses, die ich an Brooklyn mag – die Freude, um eine Ecke zu biegen und diesen dunklen Gang zu entdecken, nur einen Häuserblock von dem perfekt gepflegten Park entfernt. Hier und da offenbaren sich unerwartete Einblicke in eine andere Welt. Manchmal offenbaren sie sich auch nicht; man muss wissen, dass sie da sind. Früher konnte man zum Beispiel durch einen Schacht mitten auf der Atlantic Avenue in einen der ältesten U-Bahn-Tunnel der Welt hinuntersteigen. Er wurde 1844 erbaut, zwanzig Jahre später versiegelt und erst in den 1980ern wiederentdeckt. Ich war einmal unten, bin wie Alice durch das Kaninchenloch gekrabbelt, durch eine Kammer aus Backsteinen und dann eine Holztreppe hinunter in ein riesiges Gewölbe mit Rillen im Boden, wo früher die Schienen lagen. Die rückwärtige Wand bestand nur aus einem riesigen Haufen Steine. Die Spekulationen, was sich hinter diesem Haufen befinden könnte, reichen von einer Lokomotive aus den 1830ern, den fehlenden Seiten aus dem Tagebuch von John Wilkes Booth (dem Mörder von Abraham Lincoln) und Beweisen für eine Verstrickung von hochrangigen Persönlichkeiten aus New York City in Lincolns Ermordung. Aber es fanden keine weiteren Aus­grabungen mehr statt – und vor vier Jahren wurden die Besichtigungen abgesetzt. Der Tunnel wurde verschlossen. Wenn man nicht weiß, dass er da ist, findet man ihn nicht mehr. Aber er ist da – ein hundertfünfzig Jahre altes Geheimnis, das verloren ging und wiedergefunden wurde, direkt unter einer von Brooklyns verkehrsreichsten Straßen.
Weiter geht’s: Über das chemisch anmutende Blaugrün des Gowanus­kanals zur Third Avenue, wo ein weiteres Kuriositäten­kabinett steht. All meine Lieblingsmuseen beheimaten Kurio­­sitäten, aber dieses ganz besonders. Früher war das Morbid Anatom Museum ein winziger, vollgestopfter Raum, in dem gerade mal eine Sammlung mit Nachschlagewerken und eine kleine Ausstellung von Absonderlichkeiten Platz hatte. Heute ist es in einem eigenen Gebäude untergebracht. Ich gehe durch den Buchladen, die Treppe hoch und durch die Galerie, in der im Augenblick die Ausstellung Die Kunst des Trauerns gezeigt wird, bis zur neuen Bibliothek. Sie ist ein Raum der Wunder, voller Bücher, Präparate, Devotionalien, anatomischer Kunstgegenstände und Sammlerartikel.
Von hier aus ist es nur ein Katzensprung zum Green-Wood Friedhof, wo ein Schwarm wilder grüner Papageien in dem riesigen neugotischen Torhaus lebt und wo in dieser Woche eine kopflose Hulatänzerin aus Sperrholz die Besucher auf den Stufen der Kapelle zu einer Ausstellung des Ingenieurs und Erfinders W. F. Mangels willkommen heißt. Im Gebäude befindet sich eine Sammlung von Relikten des alten Vergnügungsparks von Coney Island: eine Schießbude, ein sich aufbäumendes Karussellpferd, ein Karten­häuschen – alles erleuchtet von Buntglasfenstern und farbenfrohen Lampions. Aber ich fahre heute daran vorbei. Coney Island wartet, und der Nachmittag neigt sich dem Ende zu.

Die Sonne geht unter, als ich vor einem altmodischen Süßigkeiten­geschäft auf der Surf Avenue parke. Um diese Zeit bin ich am liebsten in Coney Island: wenn ein kalter Tag endet.
Auf Bildern wird Coney Island immer voller Menschen gezeigt. Aus jeder Dekade, seit Beginn der Fotografie, gibt es Aufnahmen des Strandes, wo die Menschen so dicht an dicht liegen, dass man den Sand nicht mehr sieht. Ich aber mag Coney Island am liebsten als Geisterstadt. Im Winter. In der Kälte. Wenn die Vergnügungs­parks und die meisten Läden an der Promenade geschlossen haben, hat es einen ganz besonderen Charme des Vergangenen. Dann lugt das alte Coney Island – mit abgeblätterter Farbe und rissigem Lack – hinter der glänzenden neuen Achterbahn hervor. Der leere Strand sieht wie eine Mondlandschaft aus, und der Sonnen­untergang legt ein goldenes Band auf die Promenade. Hinter den Bars, den Imbissbuden und Picknicktischen wechseln sich große Asphaltflächen, aus denen es grün hervorsprießt, mit den Ge­länden der Vergnügungsparks ab. Die Läden der Buden in den Gassen sind heruntergelassen, die Schilder dunkel und nur dann erleuchtet, wenn die Sonne die nackten Glühbirnen aufblitzen lässt. Coney Island im Dornröschenschlaf.

Einen Häuserblock vom Ufer entfernt steht ein weiteres Kuriosum, das Coney Island Museum. Ich spaziere zwischen den einzelnen Elementen eines Spiegelkabinetts, alten Autoscootern aus den 1940ern und Überbleibseln der Coney-Island-Meerjungfrauen-Parade der letzten Jahrzehnte umher. In einem der Gänge wird an Topsy erinnert, die Elefantenkuh, die 1903 in Coney Island hingerichtet wurde. Es ist ein Mutoskop, und wenn man an einer Kurbel dreht, zeigen die bewegten Bilder Topsys Tod durch Stromschlag. Die Firma, die den Film drehte, war von Thomas Edison gegründet worden, ebenso wie die Firma, welche die Hinrichtung durchführte. Eine Frau kommt zu mir und fragt mich, ob ich wüsste, was ich da gerade gesehen hätte. Natürlich weiß ich es, ich habe jahrelang die Geschichte von Coney Island studiert, bevor ich mich hinsetzte und anfing, meinen Roman Broken Lands zu schreiben. Ich setze zu einer Antwort an, doch sie schüttelt sofort den Kopf.

Die Nacht bricht herein. Das Riesenrad steht still wie ein dunkles Skelett und die Neonreklame von Nathan’s Famous, dem Hot-Dog-Restaurant, ist grell und wunderschön. Ich betrete den Süß­waren­laden und will mir einen Liebesapfel kaufen, als ich feststellen muss, dass ich meine Geldbörse verloren habe …
An jedem anderen Tag wäre mir nun gründlich die Laune verdorben. Aber ich habe den Nachmittag an Orten verbracht, welche die Zahnrädchen in meinem Kopf in Bewegung gesetzt haben. Und ein Sonnen­untergang in Coney Island geht mir immer tief ins Herz. Nach verlorenen Geldbörsen zu suchen wäre Zeit­ver­schwendung. Es gibt Geschichten, die erzählt werden müssen.