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Fiona Rempt

Vertauscht

Nr 182 | Februar 2015

gelesen von Simone Lambert

Welches Kind träumt nicht manchmal, dass es nicht in die Familie gehört, in der es aufwächst? Die Frage nach Her­kunft, Verwandtschaftsbeziehungen und Mutterliebe ist mindestens so alt wie die Literatur. Wenn Brecht in seinem Kaukasischen Kreidekreis zwei Mütter um ihrer beider Sohn streiten lässt, bis eine von beiden um ihres Rechts willen bereit ist, ihm Leid anzutun, geht es um genau diese Fragen: Welche ist die wahre Mutter – die, die mich aufzieht oder die, die mich geboren hat? Und: In welche Familiensituation gehöre ich? Fiona Rempt erzählt in ihrem modernen Tagebuch- und Briefroman Vertauscht gewissermaßen den «Kaukasischen Kreidekreis Teil II»: Wie sieht das Kind die Elternschaft?
Pum und Yannick sind beide 13, als das dramatische Geständnis der Eltern ihre Welt aus den Angeln hebt: Beide sind kurz nach der Geburt vertauscht worden. Erst ein Bluttest fünf Jahre später hat diesen Fehler offenbart. Die Eltern beschlossen, die bisherige Situation und das geliebte Kind zu behalten und die beiden Mädchen als Teenager selbst entscheiden zu lassen, wohin sie ge­hören. Mit dem 13. Geburtstag ist diese Situation eingetreten.
Ihrem Temperament gemäß reagieren die Mädchen verschieden. Pum, die mit ihren jungen Musiker-Eltern in Amsterdam lebt, ist wütend und fühlt sich verraten. Yannick dagegen, die in einem
reichen Vorort von Den Haag aufwächst, bleibt verhalten und will erst einmal an der Lage nichts ändern.
Pum nimmt zu Yannick Kontakt auf. Die beiden freunden sich vorsichtig an, sehen die jeweils andere aber auch kritisch. Dann hat Pum die zündende Idee. Um herauszufinden, welche die wahre Familie ist, schlägt sie einen Urlaubs- und Familientausch vor. Und es kommt wirklich so: Pum lernt ihre leiblichen Brüder und Eltern in deren Ferienhaus in Ungarn kennen, und Yannick fliegt mit Pums Familie nach Thailand und erfährt dort viel über sich selbst. Tatsächlich hat sie die Umgebung, in der sie aufwachsen, geprägt, aber es gibt auch Neigungen und Fähigkeiten, die angeboren sind, stellen die Mädchen fest. Diese Erkenntnis erschüttert sie, sie fühlen sich um einen Teil ihrer selbst betrogen.
Rempt findet in ihrer temperamentvollen, lebendig erzählten Ge­schichte eine plausible und kluge Lösung für die Identitätskrisen der beiden Mädchen. Die Frage nach der wahren Familie entscheiden nicht Blutsverwandtschaft oder soziale Vorteile. Von vornherein ist klar, dass beide Kinder sich in ihren Familien wohlfühlen; sie werden geliebt und sind beschützt und gut versorgt. Auch Yannicks wohlhabende Familiensituation spielt keine Rolle bei der Entscheidungsfindung, eher schon die Frage nach konservativ-konventioneller oder moderner Lebensweise und Erziehung. Am Ende sind es die sozialen Bindungen, die die Entscheidung der Mädchen lenken. Bemerkenswert ist, dass sie ihre Entschlüsse nicht für die Herkunft, sondern für ihre persönliche Zukunft treffen!
Wenn die Mädchen einen Weg finden, das in ihr Leben zu integrieren, was ihnen nahe ist, ohne ihre Geschichte zu verlassen, ist das eine moderne Antwort auf jene allzu menschliche, zwie­spältige Erfahrung von Sehnsucht und Verlust oder Versäumnis, die jeder zu verarbeiten hat – das ist das Fazit dieser spritzigen, intelligenten und keineswegs harmlosen Lektüre!