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Michael Stehle

Endlich frei

Nr 184 | April 2015

Zum 29. April 1945

Mit 13 Jahren wurde Elli Friedmann im Frühjahr 1944 mit ihrer Familie aus dem slowakischen Šamorín verschleppt und zunächst nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie am 31. Mai eintrifft:
In der vierten Nacht hält der Zug. Wir werden von dem schrecklichen Lärm der aufgerissenen Türen und von kalter Luft geweckt, die in den Waggon hereinströmt. «Raus! Alle raus!» Ein riesiges Schild hängt da: AUSCHWITZ.
Man hat uns geschoren und ausgezogen, Frauen und Mädchen im Alter von sechzehn bis fünfundvierzig, hinweggerissen von Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern, Söhnen und Töchtern. Ein tiefer Riss hat uns von der Vergangenheit abgetrennt.
Ohne es zu wissen, haben wir die Selektion durch den teuflischen Doktor Mengele überlebt, dieses harmlos wirkende, besessene Ungeheuer, das liebevoll mein «goldenes Haar» gestreichelt hat und mir mit sanfter Stimme riet, seine SS-Maschinerie auszutricksen und ein falsches Alter anzugeben, um mein Leben zu retten.
Es folgen weitere Stationen: das Arbeitslager Plaszów in Galizien, noch einmal Auschwitz, dann Augsburg.
«Elli, wach auf. Wir sind da. Du hast vierundzwanzig Stunden geschlafen …»
«Spricht jemand Deutsch?», fragt ein Offizier. «Wir haben einen Transport mit Frauen aus Auschwitz erwartet. Kommt ihr aus Auschwitz? Seid ihr anstelle der Frauen hier?» –?«Wir kommen aus Auschwitz. Und wir sind Frauen.» Eine Welle der Ungläubigkeit zieht durch die Reihen der versammelten Militärs …

Sieben Monate lang bleibt sie in Augsburg und wird zur Zwangs­arbeit in den dortigen Michelwerken eingesetzt, bis sich plötzlich die Neuigkeiten überschlagen:
Ende März kommen fantastische Gerüchte auf: Die Alliierten rücken vor. Unsere Befreier, die Amerikaner und Engländer, sind schon ganz nah …
Dann gibt es andere Gerüchte. Wir sollen evakuiert werden … Monatelang habe ich unablässig geträumt, gehofft, gebetet. Jetzt gehen wir – welcher Zukunft entgegen?
Dann, am 29. April 1945, kommt es endlich zum erlösenden Moment:
Wenige Minuten später erscheint ein kräftiger Offizier mit roten Backen. Mit lauter Stimme fragt er in seltsam klingendem Jiddisch: «Wer seid ihr? Seid ihr Juden?» Und noch einmal: «Wer seid ihr? Könnt ihr mich verstehen? Könnt ihr Jiddisch sprechen? Wer von euch versteht, was ich sage?»
Wir starren ihn an, ohne zu antworten. Schließlich flüstert Martha, die dem Eingangstor am nächsten ist: «Wer sind Sie?»
«Wir sind Amerikaner. Aber wer seid ihr? Seid ihr Juden? Seid ihr Männer oder Frauen?» – Schnell setzen sich alle auf. «Amerikaner!» Es ist so weit. Wir werden befreit. Es ist überstanden. Die Amerikaner sind jetzt da. Wir sind frei. Endlich sind sie da. Endlich.


Am 29. April 2015 jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrations­lagers Dachau und der angegliederten Außen­lager zum 70. Mal. Elli Friedmann, deren Vater in den letzten Tagen vor der Befreiung im Lager Bergen-Belsen ermordet wurde und die heute den Namen Livia Bitton-Jackson trägt, gehört nicht nur zu den Überlebenden, sie hat Zeugnis abgelegt von den Grausamkeiten, die sie während der verschiedenen Stationen ihrer Deportation erlebt hat. In ihrem Buch 1000 Jahre habe ich gelebt berichtet sie von ihrem Leben als Jugendliche im Holocaust, endend mit der Befreiung und der Überfahrt in die USA, wo sie später einen Lehrstuhl an der City of New York University innehatte.
«Mit dem Buch stellte sich die Professorin für Jüdische Geschichte in eine Reihe mit Autoren wie Ruth Klüger, Primo Levi und Elie Wiesel. Der lobte es als eines der bewegendsten Dokumente, die er jemals über den Holocaust gelesen hat.» (Süddeutsche Zeitung)
Livia Bitton-Jackson ist heute 84 Jahre alt und lebt in Israel und den USA.