Claus-Peter Lieckfeld

Der See der Seher

Nr 185 | Mai 2015

Es gab und gibt rund um den Ammersee etliche unvergessene Schriftsteller: Christian Morgenstern zum Beispiel. Oder Bert Brecht. Oder Deutschlands vielfach preisgekrönten Nachkriegs­schriftsteller Heinz Piontek. Der ließ sich Ende der Sechziger in Riederau vier Sommer lang Lyrik und Prosa einflüstern. Aber keiner hat den See so vertraulich angesprochen, ihn gewissermaßen geduzt, wie ein vergessener Dichter, der Dießener Lehrer und Heimatkundler Franz G. Schaehle:

Das ist mir gar ein lieber Freund
der stille Ammersee.
Ich hab ihm einmal vorgeweint,
mein Herz sei wund und weh ...


Schaehle reimte sich da etwas zusammen, was womöglich mehr sagt, als ihm selbst bewusst war; Antwort auf die Frage: Warum gerade und immer wieder der Ammersee? Der etwas kleinere der zwei großen Seen im Münchener Umland (der größere ist der Starnberger) war ab den 1870ern so etwas wie Heilwasser und Tonikum für stadtmüde, wundgeriebene Künstlerseelen.
Und warum nicht der Starnberger See? Dessen schon früh von Geld getrübte und von Palazzi Protzi überkrustete Gestade hatten als Zuflucht für Empfindsame spätestens mit den Gründerjahren ausgedient. Aber westlich davon lag ja noch der «Bauernsee», auch nicht viel weiter von der Hauptstadt entfernt.
Der Ammersee war erschwinglich. Hier mietete man sich für ganz kleines Geld in Fischerhäuschen ein. Hier traf man sich in den ufernahen Wirtshäusern und träumte den Tag zu Ende. Hier ging man in sich. Und das immer in der Hoffnung, jemanden anzutreffen, dessen Bekanntschaft lohnt.
Den Anfang machte 1875 Wilhelm Leibl, der bedeutendste süddeutsche Vertreter des Realismus im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts. Er verliebte sich, sozusagen über den Rand seiner Staffelei hinweg, in das damalige Ammersee-Fischerdorf Unterschondorf. Und – der Mann empfand halt ganzheitlich – in ein dortiges Wirtstöchterlein. Für die blieb die Liebschaft nicht folgenlos. Und die Realität holte den Meister des Realismus ein. 1877 floh Leibl zurück nach München. Und auf dem Rückweg kamen ihm – bildlich gesprochen – viele entgegen, die es in seiner Nachfolge an die Ammersee-Ufer drängte.

Ein heutiger Ammersee-Künstler, Andreas Kloker, Jahrgang 1948, nickt dem Pionier, beziehungsweise seiner Bronzeguss-Plakette am Schondorfer Wilhelm-Leibl-Platz, immer mal wieder zu, wenn er von seiner Atelier-Wohnhöhle zum See geht. Leibl ist für Kloker zwar Vorläufer, aber nicht unbedingt Vorbild: «Die Welt realistisch wie Leibl oder zeichenhaft wie Klee abzubilden … das verbietet sich für mich … weil die Wirklichkeit unschlagbar wirklich ist», sagt er. Aber das bedeutet für ihn nicht Abwendung von Realität, sondern im Gegenteil Zuwendung. Zuwendung mit anderen (künstlerischen) Mitteln.
Klokers Thema ist das ewige «Vergehen und Werden», das «Zeitkontinuum». Dorthin dringt er mit seinen Elementarzeichnungen vor. «Elementar» in An­lehnung an die vier klassischen griechischen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Auf einer großen Schiefertafel (Erde) zieht er mit Fingern oder den unterschiedlichsten angefeuchteten Spachteln, Pinseln, Büscheln schwungvoll Spuren (aus Wasser). Luft und Wärme (Feuer) lassen die Spuren langsam verschwinden; und im Verschwinden entsteht Neues, Verblüffendes, Nie-Gesehenes. Ein Kindergesicht trocknet, altert, vergreist, wird schließlich zum Totenschädel, aus dem – bei weiterem Abtrocknen – eine Nabelschnur fällt.
Schiere Magie, sagen Publikum und Kritiker. Kloker kann den Prozess auch umkehren. So ließ er in der KZ-Gedenkstätte Dachau die Antlitze von Nazi-Opfern wieder – sozusagen aus der Erde (Tafel) – hervortreten. Das geschah, indem die deckende Feuchtigkeit abtrocknete, sodass die Vergessenen wieder ein Gesicht bekamen.
Oder: Er zieht höchst konzentriert mit breiter Quaste über eine Stunde und länger unendlich langsam eine Linie; die winzigen Sprünge im Kontinuum verursacht sein Herzschlag, der sich der Hand mitteilt. Eine Lebenslinie, Herzschlag getaktet. Wo der Takt endet, endet das Leben. Und beginnt neu, denn am Linienende folgt der Aufschwung.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de) Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

«Um das zu machen, braucht man ...», Klokers Blick gleitet suchend über die Accessoires, die seine kleine Werkstatt füllen, «na ja, man braucht schon auch Übung … und handwerkliches Können. Aber meine Kunst liegt nicht darin, dass meine Linien besonders gekonnt oder genial sind, sondern im Sichtbarmachen des Unsichtbaren, vor allem der Zeit, und dem, was die Zeit macht. Mit uns und mit allem.»
Der See liegt da sozusagen in Verlängerung der Seh-Achse. Aus Holzplanken, die in Höhe des Schondorfer Dampfer-Anlegers jahrzehntelang das Ufer schützten, fertigte er ästhetisch ansprechende, kantige Holzbündel. Etliche davon bot er, zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen, den Schondorfer Gemeindevertretern an – den Zukunftsverantwortlichen. Die Räte sollen, wenn möglich, spüren, dass sie auf einem wachsenden Kontinuum stehen … beziehungsweise sitzen: das gebündelte Holz lädt zum Drauf-Sitzen ein. Zum Kontemplieren.
Der Knabe Bertolt Brecht, der mit seinen Eltern Anfang des 20. Jahr­hunderts öfters mal im Sommer von Augsburg nach Schon­dorf zur Sommerfrische herüberkam, könnte seine Beine über die besagte Uferbefestigung hinweg ins Wasser geschlenkert haben, zumal das Schondorfer Ufer vor über hundert Jahren nur hier vor Wellenschlag geschützt war. Und hier war es auch – oder sagen wir: irgendwo hier –, dass der zukünftige Weltdichter von seiner Jugend­liebe Paula Banholzer, genannt «Bi», befeuert wurde.

So was prägt. Brecht jedenfalls blieb Ammersee-affin. Südlich von Schondorf, in der Gemeinde Utting, erwarb er Ende 1932 ein Haus, bezahlt aus den Tantiemen der Dreigroschenoper. Die Nazis, die wenige Wochen nach Brechts Einzug an die Macht kamen und den Dramatiker ins Exil trieben, verhinderten, dass Utting womöglich ein Ort wie Goethes Weimar oder Shakespeares Stratford-upon-Avon werden konnte. Brechts ehemaliges Haus ist heute nur mit Mühe und unter fachkundiger Führung aufzufinden. Utting macht sich nichts aus Brecht. Nur ein Straßenschild an einem Heckenweg gibt einen ziemlich nichtssagenden Hinweis. Brecht selbst war da liebevoller und präziser:
Zeit meines Reichtums
Sieben Wochen meines Lebens war ich reich.
Vom Ertrag eines Stückes erwarb ich
Ein Haus in einem großen Garten. Ich hatte es
Mehr Wochen betrachtet als ich es bewohnte.
Zu verschiedenen Tageszeiten.
Und auch des Nachts ging ich erst vorbei, zu sehen
Wie die alten Bäume über den Wiesen stünden in der Frühdämmerung ...

Hätte Brecht in Dießen, der südlichsten Ammersee-Gemeinde, seinen Siedlungsversuch unternommen, gäbe es dort wohl nicht nur ein Carl Orff-Museum, sondern mindestens eine kleine Brecht-Dauerausstellung an Ort und Stelle.
Nach Dießen kommt man meistens von Norden, entlang der Bahnstrecke Augsburg-Weilheim. Wenn man Utting hinter sich gelassen hat und das Zugspitzmassiv schwebend über dem See steht, kreuzt der Blick den Wasserspiegel und geht hinüber zur Biertrinker-Walhalla Andechs. Ein freudiger Anblick für mich: weil ich da nicht hinmuss.

Die Künstler vergangener und heutiger Tage wussten und wissen schon, warum Dießen und nicht etwa Herrsching/Andechs. Und wir, die es nicht so genau wissen, fragen Dr. Thomas Raff, den man Professor für Ammerseeologie nennen müsste, wenn er nicht schon sauber ordinierter Augsburger Professor für Kunstgeschichte wäre. Der Teilzeit-Dießener hat sich Gedanken gemacht, warum sich gerade hier so viele Künstler auf Dauer wohlfühlten. Darunter Weltstars der abstrakten Malerei wie Fritz Winter (1905 – 1979) oder Thomas Theodor Heine (1867 – 1948), der Mitbegründer des Satireblattes Simplicissimus.
Raff verortet den genius loci von Dießen so: «Die Bewohner Dießens konnten hier mit Landwirtschaft keinen Blumentopf gewinnen. Die Böden sind schlecht, das meiste Land gehörte dem Kloster. So verlegte man sich schon früh auf Handel und Verkehr, auf Töpferei, Zinnguss, Schmieden oder Glaserei. Notgeborenes Kunsthandwerk. Also immer schon viel Publikumsverkehr. Und als dann im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Künstler in Scharen kamen, fanden sie ein Umfeld, das von freundlicher Gelassenheit gekennzeichnet war. Die bunten Vögel gehörten rasch dazu, man war ja selbst ein wenig bunt.»

Und so lagerte sich am Spülsaum des Sees Kunst an – Kunst, die einen unschätzbaren Vorteil hat: Sie ist nicht künstlich. Kunst und Kunsthandwerk gehören hierher wie die Schwedeninsel am Südufer und wie diese Gassen. Gassen und Stege, die geblieben sind, was sie waren. Frei von der üblichen architektonischen Notzucht mit Abhängigen. Ganz ohne Lederhosen-Gotik und Anbiedermeierei.
Da, wo die Straße in sanften Schwüngen westwärts das – erdgeschichtlich gesehen – ehemalige Ammerseeufer erklimmt, findet sich rechter Hand auf halber Höhe das Carl Orff-Museum. Sehens­wert! Der Schöpfer des klassischen Welt-Hits Carmina Burana hat an der Südspitze des Ammersees seinen hoch schöpferischen Lebens­abend vollbracht ... und posthum ein katholisches, in Marmor gesetztes Wunder: Trotz viermaliger Verheiratung (Luise Rinser war Nummer drei) wurde er 1982 auf dem nahe gelegenen heiligen Berg zu Andechs beigesetzt. – Das einzige katholisch beglaubigte Wunder, das ich glauben kann. Man kann es nämlich besichtigen.