Birte Müller

Wer will wirklich wilde Racker?

Nr 185 | Mai 2015

Seit meiner Kindheit hat sich irgendetwas ganz grundlegend verändert im Verhältnis von (manchen) Erwachsenen und Kindern. Das erste Mal wurde mir das klar, als meine Nichte etwa drei Jahre alt war. Sie war der erste Nachwuchs in unserer Familie. Wir besuchten einen Weihnachtsmarkt und standen mit fünf Er­wachsenen um die Kleine herum und wollten unbedingt, dass sie Karussell fährt. Sie zuckte mit den Schultern, machte uns zuliebe und mit neutralem Gesichtsausdruck eine Fahrt mit. Wir Er­wachsenen waren begeistert! Danach hatte sie zu unserer großen Enttäuschung und trotz massiven Drängens keine Lust mehr.
Als ich versuchte, die übrigen neun Fahrkartenchips an eine andere Familie zu verschenken, fiel mir auf, dass überall um uns herum Eltern und Großeltern auf zum Teil weinende Kleinkinder ein­redeten. Saßen die Blagen dann endlich im Karussell, sahen die meisten Eltern glücklicher aus als die Kinder, konnten es aber auch nicht so recht genießen: Einer versuchte irre lachend und winkend das Kind aufzuheitern, während die restlichen Erwachsenen panisch damit beschäftigt waren, Fotos zu machen.
In meiner Kindheit war das alles genau umgekehrt! Nur ein einziges Mal hat mich mein Vater aufgefordert, Karussell zu fahren – das war in einem Freizeitpark, für den wir pauschal Eintritt bezahlt hatten.
Heute sind auf Spielplätzen in Hamburgs Szenestadtteilen gerne mal doppelt so viele Erwachsene wie Kinder zu finden und die Kindergärten tragen nicht mehr die Namen des Trägers oder Stadtteils, sondern heißen Die kleinen Racker oder Wilde Strolche. Dabei habe ich das Gefühl, die Eltern sehnen sich danach, dass ihre Kinder nicht so jammerige Waschlappen und Zicken sind, zu denen wir sie selbst gemacht haben. Wir wünschen uns mutige und abenteuerlustige Kinder – aber natürlich nur im vorgegebenen Raum und Zeitfenster und von Mama schick ausgestattet mit dem neuesten modischen Rabauken-Outfit mit einem keck schräg aufgesetzten Mützchen!
Auch ich musste feststellen, dass ich nicht Zorn, sondern vielmehr Stolz empfand, als meine Tochter die ersten Male von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt nach Hause kam. Mittlerweile könnte ich aber schon auf den einen oder anderen auf dem Bauch heruntergerutschten Matschberg verzichten, böse werde ich trotzdem nicht. Ich bin sicher, das meine Tochter das eines Tages in einer Psychotherapie aufarbeiten muss.
Interessant ist aber: Sobald ein Kind wirklich mal aus der Reihe tanzt und ECHT ein Racker ist, dann rümpfen alle die Nase, und das Kind bekommt sofort eine Diagnose verpasst! Aber zu Hause lesen wir alle Michel aus Lönneberga und das Sams vor (die wahrscheinlich beide auf ADHS positiv getestet werden würden).
Ich kann dann wohl froh sein, dass meinem Sohn seine Diagnose gleich deutlich ins Gesicht geschrieben steht. Willi hat bei vielen Leuten einen Freifahrtschein für unangepasstes Verhalten – das ist aber auch nicht immer hilfreich beim Versuch, ihn zu erziehen. Manchmal blitzt sogar etwas Neid in den Augen eines hyper­coolen Vaters auf, dessen Sohn laut plärrt, weil er sich die Finger am Zaun des Streichelzoos schmutzig gemacht hat, während Willi sich auf der anderen Seite jauchzend auf die Ziegen stürzt. Und Neid ist etwas, was ich – im vergleichenden Blick anderer Eltern auf mein behindertes Kind – eher selten zu sehen bekomme.