Marcelo da Veiga

Was heißt hier innovativ?

Nr 185 | Mai 2015

Ohne Bildung nichts Neues

Das Wort «Innovation» scheint fürs Erste auf Außergewöhnliches und Außerordentliches hinzuweisen und nahezulegen, das Normale sei die Stagnation und das Festhalten am Alten. Dabei lehrt uns die Natur das genaue Gegenteil: Die einzige Konstante ist der Wandel, die stete Erneuerung. In der organischen Natur wird das Voran­gegangene zum Humus für das Kommende. Der Tod ist die Erfindung der Natur, mehr Leben zu haben. Die Erneuerung ist die Normalität.
Nicht so in der vom Menschen geschaffenen kulturellen und sozialen Welt. Biologisch geht der Mensch aus der Evolution hervor, kulturell und gesellschaftlich muss er sich seine Lebens- und Ausdrucksformen selbst schaffen. Die Schöpfungen von gestern drohen morgen schon zum Hemmnis, zum Ballast oder gar zur Repression zu werden. Ohne die Auflehnung des Geistes, ohne neue Idee bleibt es nicht einmal beim Alten, sondern dann droht Rückschritt.
Das Sediment der Lösungen von gestern ist nicht einfach der Humus von morgen, sondern es sind Heraus­forderungen und mitunter gar zähe Widerstände. An diesen muss sich der Geist stets neu erfinden und dabei aus der Zukunft schöpfen. Innovation ist hier die Selbstaktivierung des Geistes, die Kreation neuer Lösungen als Ausdruck seiner Freiheit.
Innovation wird allzu häufig einfach mit technologischer Innovation gleichgesetzt. Ihr verdanken wir den materiellen Fortschritt und den Wohlstand. Sie hat die Lebenswelt in den letzten 200 Jahren und insbesondere in den letzten 50 Jahren gänzlich verändert. Entwickelte und baute der Mensch zunächst noch alles mit seinen Händen und handgemachten Werkzeugen, so kamen später hydraulische und motorisierte Maschinen dazu. Sie ersetzten in der Massenfertigung die Arbeit seiner Hände. Die Computertechnologie und die Robotik eröffneten dann eine neue Dimension der Substitution der menschlichen Arbeit. Heute, im Zeitalter der Digitalisierung, stehen wir wieder vor einer neuen Stufe: Computergesteuerte Maschinen erfinden, programmieren und bauen immer mehr sich selbst. Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und Virtualisierung beherrschen auch schon in hohem Maße die heutige Finanzwirtschaft mit enormen sozialen Folgen. Es gibt immer mehr Transaktions- und Geldanlageformen, die sich dem menschlichen Dabei-Sein völlig entzogen haben und von keinem Menschen mehr mitvollzogen werden können.

Die Zukunft wird zunehmend mit der maschinellen Selbst­programmierung zu tun haben. Am Ende steht eine Welt, in der der Mensch als Akteur verloren geht. Er wird darin zum Sklaven seiner Geschöpfe, der Maschinen, für die er entweder überflüssig oder zur nützlichen Ressource wird, wie in Science-Fiction-Filmen wie Terminator, Matrix oder Jupiter Ascending eindrucksvoll vorgeführt wird.
Das Problem, um das es zuletzt geht, ist nichts Geringeres als die Bewahrung der Selbstbestimmung und Würde des Menschen. Das geht nur in einer Welt, die Ausdruck seiner Freiheit und nicht seiner Ohnmacht wird. Wir stehen vor einem Szenario ohne Präzedenzfall, einer Herausforderung, die unerhörte und außer­ordentliche Antworten verlangt. Dafür muss die Gesellschaft von heute vor allem anders mit Bildung umgehen lernen. Es reicht nicht mehr, sich fachlich auszubilden und zu spezialisieren, um dann einen Job zu finden und seinen sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen. Das Motiv, zu studieren und zu arbeiten, um sich selbst materiell abzusichern – also «schaffe, schaffe, Häusle baue» – wird den zukünf­tigen Aufgaben nicht gewachsen sein. Die moderne Menschheit steuert auf immer mehr Komplexität, Unwägbarkeit und Unge­wissheit zu, die jeden in seinem Innersten fordern werden. Dafür muss neben einer fachlichen Ausbildung stärker die kulturelle Bildung, und zwar unter dem Gesichtspunkt von Sinn­findung und Vertrauen in die eigenen geistigen Produktivkräfte, ermöglicht werden. Kulturelle Bildung scheint bei Pragmatikern und Hartgesottenen nur eine Art Freizeitbeschäftigung zu sein – etwas, was man sich gönnt, wenn das Geld dazu verdient wurde. Dass es sich um das eigentliche Feld der menschlichen Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Sinn seiner Existenz handelt, wird von den «Wohlstandsaposteln» gerne verdrängt. Bildung heute darf das nicht mehr verdrängen. Sie muss Gelegenheiten schaffen, sich um die Erneuerung ethischer und sozialer Werte und innerer Richtkräfte zu kümmern: Was gibt dem Leben Sinn? Wie bringe ich mich ein? Wofür übernehme ich Verantwortung? Was trage ich zum Ganzen bei? Und: Was ist überhaupt dieses Ganze? Für diese Fragen muss Raum sein, andernfalls erzeugt man einen Nährboden für die Flucht in fundamentalistische Traditionen oder digitale Parallelwelten.
Technologischer Fortschritt ist sinnvoll, denn er setzt den Menschen frei; er befreit ihn im günstigen Fall von stupider und entfremdeter Arbeit. Wird der so gewonnene Freiraum aber nicht geistig und kulturell gefüllt, dann verfehlt die Gesellschaft das, was sie zu sichern vorgibt: die würdige Existenz in Freiheit und mitmenschlicher Verantwortung.
Es wird nicht zu Unrecht viel Wert auf naturwissenschaftliche und mathematische Bildung gelegt. Über die Stiftung von Sinn, Bedeutung im Leben und die Kompetenzen, die wir brauchen, um abseits von Beliebigkeit und Fundamentalismus zu tragenden Werten und Orientierungen zu kommen, ist noch viel zu selten die Rede. Eine ernst gemeinte kulturelle Bildung, die sich auch der Frage nach der Sinnfindung nicht verschließt, ist aus meiner Sicht das probate Mittel, um an die Stelle von virtuellen und digitalen Erlebnissurrogaten schöpferische Freiheitswelten zu setzen. Innovation heißt für mich hier und heute daher: neue Formen der kulturellen und sozialen Bildung schaffen.