Maria A. Kafitz

Inseln der Flaneure

Nr 186 | Juni 2015

Plötzlich schnattert es überall. Welch wunderbares Willkommens­geräusch!
Ab und an dringt dann ins Schnattern und Flügelschlagen ein Fauchen. Einer der Spaziergänger ist zu nah gekommen. Zu nah an diesen unverhofften Begrüßungsschwarm aus Wildgänsen samt Jungtieren im Park auf Djurgården im Osten von Stockholm. Unweigerlich kommt da Nils Holgersson in den Sinn:
«Das Wetter war wunderbar. Das Wasser rieselte, die Knospen trieben, und rings um ihn herum wurde gezwitschert … Noch nie war ihm der Himmel so blau erschienen wie heute. Und jetzt kamen Zugvögel herbei. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, geradewegs nach Smygehuk, und nun waren sie auf dem Weg nach Norden. Sie waren gewiss von vielerlei Art; aber er erkannte nur die Wildgänse wieder. Sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen.
Mehrere Scharen Wildgänse waren schon vorübergezogen. Sie flogen weit oben, und doch hörte er, wie sie riefen … Es war, wie gesagt, ein unerhört schöner Tag mit einer Luft, so frisch und so leicht, dass es eine wahre Freude gewesen wäre, darin zu fliegen.»
(Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Hier zitiert nach der Neuübersetzung von Thomas Steinfeld. Diese empfehlenswerte Ausgabe mit den Illustrationen von Bertil Lybeck ist im Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2015, erschienen.)

Ja, es war eine wahre Freude, die Gänse zu beobachten, gedanklich mit ihnen in die Luft zu steigen und Kreise über dieser Stadt zu ziehen. Sie flogen ohne mich davon – mich hatte ja schließlich auch kein Wichtel in eine «Wichtelin» verwandelt. Ihre Schöpferin aber, die Schriftstellerin Selma Lagerlöf, auch wenn sie nur wenige Jahre in Stockholm lebte, schenkte mir dennoch einen anderen Blick auf diese Stadt. Und dies nicht dadurch, dass überall Büsten mit ihrem markanten Gesicht thronen, Schilder mit unzähligen Hinweisen zur ersten Literatur­nobelpreisträgerin von 1909 hängen oder gar literarische Touren Touristen auf ihren Wegen durch die Stadt führen.
Nein. Sondern dadurch, dass mir nach dem Gänsetag ein Autor gegenübersitzt, der seit über dreißig Jahren intensiv mit Selma Lagerlöf lebt – lesend, recherchierend, wieder lesend und schließlich über sie schreibend. Und der seit neunzehn Jahren in Stockholm wohnt und über diese Stadt spricht wie über eine Vertraute, die aber immer noch Geheimnisse vor ihm hat.
Holger Wolandt wartet bereits im Café Koloni auf der Insel Helgeands­holmen beim Reichstag und schaut den Anglern zu. Ja, mitten in der 1,4 Millionen Ein­wohner zählenden Stadt stehen tat­sächlich Männer in langen Gummistiefeln und Angler­hosen im Wasser und warten darauf, einen Lachs oder andere Fische zu erwischen.
«Dass Wildgänse Sie in Stockholm begrüßt haben, passt prima», erklärt Holger Wolandt freudig. «In Nils Holgersson erzählt Selma Lagerlöf nämlich auch von der Entstehung Stockholms.* Das spielt genau hier, wo wir uns treffen. Da lernt man außerdem den Grund kennen, warum vieles diese besondere Schönheit hat. Kommen Sie, wir gehen spazieren. Stockholm ist eine Stadt der Flaneure.» (* Diese Passage steht in Kapitel 37 – und ist ein weiterer Grund, dieses Buch aus Kindertagen wieder einmal zu lesen!)

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Fotos: © Sebastian Hoch | Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Dass flanieren nicht zwingend gemütlich schlendern meint, merke ich recht schnell beim Versuch, mit Holger Wolandt Schritt zu halten. Doch unser Rhythmus gleicht sich im Wechsel von Gehen und Stehen, Zeigen und Sehen rasch an. Unser Spaziergang beginnt am Gustav-Adolf-Platz an der Königlich Schwedischen Nationaloper, um die sich allerlei musikalische Mythen und reale Tragödien ranken – allen voran jene um König Gustav III., der das Opernhaus errichten ließ und darin während eines Maskenballs am 16. März 1792 ermordet wurde. Giuseppe Verdi behandelt dieses blutige Ereignis fast siebzig Jahre später in seiner Oper Un ballo in maschera (Ein Maskenball). Eine Aufführung an diesem Ort – das Ur-Gebäude wurde leider abgerissen und Ende der 1890er-Jahre durch ein noch schmuckeres neues ersetzt – ließe gewiss musikalischen Zauber und historisches Grauen verschmelzen … Aber es ist Mittagszeit. Mehr noch: es ist Mittsommer. Niemanden in Stock­holm zieht es in ein Gebäude, alle wollen die hellen Stunden des Jahres draußen verbringen. «In den Sommermonaten spielt sich das Leben auf den Straßen ab», erzählt Holger Wolandt und beschleunigt das Tempo erneut. «Bei den ersten Sonnenstrahlen kommen die Shorts aus dem Schrank, und alle sitzen in den unzähligen Straßencafés oder auf Bänken am Wasser, und Wasser gibt es hier mehr als genug.»

Zum Wasser will auch er – daher geht es am Ufer die Södra Blasieholmshamnen entlang. Selma Lagerlöf begleitet uns erneut, denn in Nr. 8 ist das imposante Grand Hôtel beheimatet. Dieses vornehme Haus strahlt nicht nur wegen seiner hübschen Fassade, den zwei Michelin-Sternen und der Glamour-Prominenz, die dort bereits wohnte – es strahlt vor allem alljährlich während der Feiern rund um den Literaturnobelpreis. Denn wenn nach dem offiziellen Teil im Konserthuset und dem großen Bankett im Stadshuset der Abend der Nacht weicht und die Anspannung der Freude, dann trifft man sich zum Absacker in der Cadier-Bar des Hotels, in dem die Preisträgerinnen und Preisträger stets wohnen. Angeblich muss wegen der aufwendigen Verzierungen das Nobelpreis-Geschirr per Hand gespült werden, was ganze zwei Wochen in Anspruch nehmen soll. Und angeblich fehlen jedes Jahr auch wieder ein paar Teller.
In dem einen Nobelpreisträger oder der anderen Geehrten schlummert wohl auch ein ganz normaler Andenkensammlertrieb …
Holger Wolandt wird beim Anblick des Hotels nicht nur literaturschwärmerisch, denn dahinter liegen das alte königliche Zollhaus und die kleinen, etwas heruntergekommenen Holzbootshäuser, in denen sich Werkstätten und Ateliers befinden und deren Zukunft ungewiss ist. «Einer protzigen Veranstaltungshalle für die Nobelpreisfeierlichkeiten soll alles Alte und Alternative hier weichen. Manchmal krankt diese Stadt an ihrer eigenen Schönheits- und Funktionssucht», erklärt er mit kleinem Kloß im Hals und deutlichem Funkeln in den Augen.
Auch wenn ich nicht schon Jahre hier lebe, kann ich dennoch sogleich verstehen, was er meint. Stockholm hat wenige dunkle, dreckige Winkel, in denen soziale Probleme erlebbar werden. Die gibt es hier mit Gewissheit auch, aber sie scheinen jenseits des Sichtbaren stattzufinden. Manchmal können Schönheit und Sauberkeit einem die Luft auch nehmen.

Was diese Metropole Skandinaviens wie eine Sammlung hübscher, unterschiedlicher Kleinstädte wirken lässt, ist nur teilweise den Menschen, vor allem aber der Geographie geschuldet: Ein Meer­busen der Ostsee umschließt Stockholm im Osten mit zahlreichen Buchten, Landzungen und etwa 24.000 (!) größeren und kleineren Inseln, den sogenannten «Schären». Ein Urlaubs- und Bootsfahr­paradies. Zudem liegt die Stadt am Ausfluss des Sees Mälaren in die Ostsee. Süß- und Salzwasser und mit ihm zahlreiche Fischarten begegnen einander im Zentrum.
Wasserliebenden und Wasser begegnet man allüberall, macht es doch gute dreißig Prozent der Stadtfläche aus. Und ein Stockholmer würde auch nur freundlich lächeln, wenn er vom Lied wüsste, in dem über sieben Brücken gegangen werden muss, damit Wunder geschehen. Denn in seiner Heimatstadt, die sich über vierzehn Inseln erstreckt, sind es derzeit 53 Brücken, welche die einzelnen Stadtteile miteinander verbinden, die durch ihr Inselsein aber dennoch ein Eigenleben führen.
Wir sind derweil auf die Insel Skeppsholmen spaziert, auf der man sogleich einen ABBA-Hit summen will, wenn man Benny Anderssons Tonstudio passiert. Von hier aus hat man aber vor allem einen wunderbaren Blick auf die anderen «Stadtinseln»: Im Norden zeigt sich Östermalm, bekannt für seine exklusiven Clubs und Bars entlang des Stureplan und als hippe Wohnadresse überaus begehrt; und Norrmalm, das moderne Geschäftszentrum, zeigt sich auch. Im Westen kann man nach Gamla Stan schauen, wo die bildschöne Altstadt liegt. Im Osten blickt man gen Djurgården zu den Wild­gänsen und sieht, wie sich im beliebten Freizeitpark Gröna Lund die Fahrgeschäfte drehen oder in die Tiefe stürzen. Im Süden liegt Södermalm, das junge Stockholm, das mir Holger Wolandt ans Herz legt, wenn ich wissen möchte, was gerade in Skandinavien und bald schon überall «in» ist.

Auf Södermalm, der größten Insel Stockholms, die einst der ver­rufene Arbeiterstadtteil war, geschieht seit einigen Jahren das, wovon die Urbewohner am Prenzlauer Berg in Berlin oder die Altein­gesessenen im Hamburger Ottensen viele Klage- und manche auch Jubellieder singen können. Überall eröffnen kleine Cafés und Galerien, Lädchen mit Allerlei und allerlei Läden für irgendwie alles. Es ist trubelig hier und bunt. Für dezentes Bunt und klare Formen sorgen die vielen Designer. Für wilderes Farbgemisch und ein exzentrischeres Äußeres die zahlreichen Kleider- und Second­hand-Geschäfte. Wer etwa das POP Stockholm (www.popstockholm.se) betritt, landet mitten im Farb- und Formspektrum der 1950er- und 60er-Jahre und bekommt Lust aufs Verkleiden. Für Saga Ekman ist es kein Verkleiden – sie liebt ihre schrillen Schätze, die sie überall in der Welt aufstöbert und – Stilberatung inklusive – ihren Kunden verkauft.
Erstaunlich viele dieser Kunden sind mitten in der Woche und mitten am Tag: Männer. Mittelalte Männer. Was auf Södermalm nämlich besonders auffällt, sind Väter mit Kinderwägen. In einem Zeitungs­artikel war zu lesen, dass in Deutschland rund zwanzig Prozent der Väter in Elternzeit gehen (zumindest für ein paar Monate). In Skandinavien sind es etwa fünfzig Prozent. In Schweden liegt die Zahl noch höher. Den Höhepunkt aber erreicht Stockholm, genauer gesagt Södermalm, mit fast achtzig Prozent!*

Für Holger Wolandt war Elternzeit keine Frage, denn als freier Autor und Übersetzer ist sein Arbeitsplatz ohnehin daheim. Södermalm war auch keine Frage, denn sein Herz schlägt eher für die mittelalterliche Altstadt. «Sie ist mit ihren verwinkelten, stimmungsvollen Gassen und schönen alten Kirchen, der Storkyrka (das ist die Domkirche Stock­holms) und der Tyska Kyrka, der Kirche der deutschen Hanse­kaufleute, für mich der schönste Stadtteil. Hier würde ich gerne wohnen, aber das können sich nur die Promis wie beispielsweise die Schauspielerin Sofia Helin und der Krimiautor Johan Theorin leisten.»
Letzteren hätte er sicher auch gekonnt übersetzt, hat er doch ge­meinsam mit Lotta Rüegger schon andere Krimigrößen wie Helene Tursten, Hans Koppel oder Jan Guillou ins Deutsche übertragen. Wie es kommt, dass dem Land der schönen und meist überaus freundlichen Menschen, der wildromantischen Natur und der gepflegten Städte so viele blutige Schandtaten, so viele mörderische Abgründe in Form von Büchern und Filmen entspringen, darüber können wir nur mutmaßen. Macht der Kontrast es erst möglich? Sorgen die vielen dunklen Stunden jenseits der hellen Mitt­sommer­zeit dafür? Ist es die Hoffnung, dass Geschriebenes in den Buch­deckeln verharrt und so keine Wirklichkeit wird …? Auch das bleibt rätselhaft. Unergründ­liches Menschenherz.