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Ute Hallaschka

Pflanzenleben

Nr 186 | Juni 2015

Wir schauen in allen alten Kulturen der Menschheit zurück auf ein umfassendes Bewustsein von heilenden Kräften. Heute müssen wir diese Beziehung, die Zuneigung zum Lebensvollen ganz neu an­bahnen. Was einst durch auserwählte Priester, Seher und Schamanen mitgeteilt wurde, das will heute erfahren werden im individuellen Selbstbewusstsein.
Die Rede ist von der Pflanzenwelt – einer großen Unbekannten für viele Menschen. Doch was uns in ihr umgibt als aufbauende Kraft, was unsere Nahrung darstellt, reicht bis in unsere intimsten Lebens­prozesse, bis in jeden Atemzug. Pflanzlicher Stoffwechsel erhält die irdische Atmosphäre. Doch wie wenig wissen wir von ihrem Leben! Wie stellt es bloß ein Grashalm an, mit seinem feinen Stängelchen durch den hartgefrorenen Winterboden oder gar durch Asphalt hervorzudringen, ohne zu brechen? Das Pflanzenleben erstreckt sich im Licht zwischen Himmel und Erde, im Kreislauf des Regens bis in die Wolken. Im Erdboden ereignet es sich in der dünnen Humusschicht, die weniger erforscht ist als die Oberfläche des Mondes.
Was im Pflanzendasein vor sich geht, ist im Wesentlichen Kommu­nikation, Austausch der eingeborenen Informationskraft des Lebens. Dieser Intelligenz gegenüber kann man sich leicht wie ein An­alphabet fühlen. Mit dem dringenden Bedürfnis, lesen zu lernen im Buch des Pflanzenreichs.
Für diese Weiterbildung gibt es eine wundervolle Gelegenheit. Das Buch von Markus Sommer: Heilpflanzen – ihr Wesen, ihre Wirkung, ihre Anwendung (das auch, vom Autor gesprochen, als Hörbuch erschienen ist). In vierzig Pflanzenporträts zeigt sich die tiefe Be­ziehung zwischen dem Wesen der Heilpflanzen und den jeweiligen Krankheiten, die sie heilen oder zumindest lindern können. Der Münchener Arzt bringt als Autor nicht nur seine langjährige Erfahrung aus der anthroposophischen Praxis ein, was das Buch zu einem hilfreichen Ratgeber macht, dieses Kompendium hält bis zur Zubereitung eigener Heilmittel eine Fülle von praktischen An­wendungen bereit.
Doch was diese Publikation einzigartig macht, ist ihr literarischer Stil. Markus Sommer schreibt seine Pflanzenporträts wie Gedichte. Wissenschaft und Kunst gehen hier so harmonisch ineinander über, dass es zum Staunen ist. Man kann dieses Buch also auch über alle Nützlichkeit hinaus lesen. Es verschafft Muße – und Inspiration. Als Begleiter durch die Jahreszeit laden die Texte zum wachen Träumen ein, und dies in der konkreten Anteilnahme am Leben.
Was kann es Schöneres geben, als sich gemütlich in dieses Zauber­reich zu vertiefen? Wir leben viel inniger mit ihm, als uns gewöhnlich bewusst wird. So kann das Studium der Heil­pflanzen das Wissen erweitern und es kann als meditativer Prozess selbst zum heilsamen Vorgang werden. Zur Aktivierung von Selbst­heilungs­kräften auf verschiedenen Ebenen führen. Vielleicht kann dabei auch die Gelegenheit zum gemeinsamen Wachstum ent­stehen, zur Entschleunigung des Beziehungslebens etwa, wenn wir die Lektüre mit einem anderen Menschen teilen. Wann haben Sie zum letzten Mal miteinander das Gras wachsen hören? Unter dem Gras und über den Wolken, wo die Gestalten der Pflanzen unsichtbar sind, dort lebt noch mehr und hört vielleicht ebenfalls zu.