Iain Lawrence

Meine Insel Gabriola

Nr 187 | Juli 2015

Einst wohnte ich in einem kleinen weißen Haus auf einem Hügel, auf einer Insel in der Nähe von Prince Rupert. Im Vorgarten stand ein dreihundert Fuß hoher Metallturm. Es war ein Sendemast für eine Funkstation. Gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin Kristin Miller hatte ich die Verwaltung für den Sendemast übernommen. Stand man vor dem Haus, blickte man über die berühmte Inside Passage. Von der Küche aus sahen wir die Berge von Alaska bläulich in der Ferne schimmern. Im Frühling bedeckten Teppiche aus Narzissen den Hügel. Im Juni gingen wir segeln, fuhren in einem alten hölzernen Walboot an der Küste entlang, tausend Meilen pro Jahr. Die wilden Inseln und Buchten des Great Bear Rainforest war im Sommer unser Heim. Im Herbst kehrten wir wieder in unser Haus zurück und bereiteten uns auf einen langen Winter vor. Heulend fegte ein Sturm nach dem anderen mit Orkanböen um den Hügel. Der Wind fuhr klagend durch die Kabel des Sendemastes und schaukelte die Schiffsglocke, die vor unserer Haustür hing, hin und her. Jeder Windstoß wurde von einem Jaulen und einem Glockenschlag begleitet, und der Klang drang bis in das kleine Hinterzimmer, wo ich saß und Bücher schrieb.
Ich hörte das Rauschen und Rattern der Brandung am steinigen Ufer, das Brausen des Windes, der durch die Bäume fuhr. Die stürmische Musik von Holsts Planeten im Ohr, schrieb ich über Wracks und Schiffbruch. Und die Geschichte, die sich daraus entwickelte – Strandpiraten – brachte meine Karriere als Kinderbuchautor auf Kurs. Es wäre nirgendwo anders so gekommen, zumindest nicht auf diese Art und Weise. Die Geschichte jener Männer, die falsche Leuchtfeuer entzünden, und des Jungen, der versucht, ihre Pläne zu durchkreuzen, entsprang den Winterstürmen an der Nordküste. Sie wurde geboren aus den Fahrten in kleinen Booten und aus den Wanderungen durch einen unheimlichen Urwald, wo menschliche Knochen durch den Morast an die Oberfläche stiegen. Sie kam aus Digby Island.

Für einige Menschen sind Inseln wie Burgen, deren breite Wasser­gräben die Gefahren der Welt draußen halten. Für andere sind sie Gefängnisse, jede einzelne ein Alcatraz. Aber ich stelle mir Inseln wie Schiffe vor. Man betritt eine Insel und wird auf eine Reise mitgenommen.
Nach sieben Jahren hoch oben auf dem Hügel machte uns die Technologie arbeitslos. Die Funkstation wurde automatisiert – wir mussten uns nach einem neuen Zuhause umschauen. Wir gingen nach Süden, zur Salish Sea, wo es wärmer war und unsere Familien lebten, wo das Wasser mit vierhundert Inseln gesprenkelt ist.
Die gezackte Grenzlinie zwischen Kanada und den USA verläuft durch die Salish Sea und trennt die kanadischen Gulf Islands von den amerikanischen San Juans. Aber überall trifft man auf die Namen der spanischen und englischen Entdecker, die auf der Suche nach der Nordwestpassage um 1700 beinahe gleichzeitig hier ankamen. Für sie war dies der entlegenste Fleck auf der Landkarte, der Ort, der per Schiff am schwersten zu erreichen war. Captain Vancouver verdeutlichte seine Verzweiflung und seine Einsamkeit, indem er einem der schönsten Gebiete der Salish Sea den düsters­ten Namen gab, den man sich vorstellen kann: Desolation Sound. Heute ist die Gegend alles andere als abgelegen. Etwa acht Millionen Menschen leben in den Großstädten, die an der Salish Sea liegen, wie Seattle und Vancouver.
Es war mitten im Winter. Wir fuhren von einer Insel zur nächsten. Eine war uns zu laut, eine andere zu ländlich, eine zu abgelegen und wieder eine zu merkwürdig. Auf der kleinen Insel Protection Island im Nanaimo’s Harbour fahren die Leute mit Golfwagen anstatt mit Autos, und man erreicht sie nur mit einem umge­bauten Rettungsboot.

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Fotos: © Christoph Jeremias & Jean-Claude Lin | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

An einem kalten, grauen Morgen machten wir uns auf den Weg zur letzten Insel auf unserer Liste: Gabriola. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt von Nanaimo aus erhob sie sich geheimnisvoll aus dem Nieselregen: eine kleine Welt aus Felsen und Wald.
Im Folklife Village, einem kleinen Einkaufszentrum aus Zedern­holz, in dem der einzige Lebensmittelladen und die meisten Geschäfte der Insel untergebracht waren, fand gerade eine Party statt. Eine neue Buchhandlung war an diesem Morgen eröffnet worden, und der Laden war vollgestopft mit Leuten in Fleece und Gore-Tex. Sie hießen uns willkommen, versorgten uns mit Kaffee und Kuchen.
Ein Immobilienmakler fuhr uns herum und herum und herum – wie ein Kidnapper, der seine Spuren verwischen will. Gabriola ist kaum zehn Meilen lang und keine drei Meilen breit, aber wir glaubten, die Insel sei riesig. Wir fanden sie außerdem wunder­schön, mit ausgedehnten «Steinwiesen», wo sich das Sand­stein­gerippe der Insel durch das Moos drückt, mit freundlichen Menschen, mit Häusern, die sich wie Feenbehausungen in den Wald schmiegen. An diesem Abend saßen wir im Pub neben dem Fähranleger, schauten den Regentropfen zu, die von der Decke fielen und zischend auf einem riesigen Holzofen vergingen, und beschlossen, ein Haus zu kaufen.
Ich bedauerte, den Norden verlassen zu müssen. Aber ich hatte das Gefühl, dass meine Zeit dort zu Ende war. Wie ein altgedienter Matrose, der ein Schiff verließ und auf einem anderen anheuerte, auf der Suche nach einem neuen Abenteuer, so verlangte es auch mich nach einem Wechsel. Wir packten unsere Habe auf einen Laster, brachten sie nach Gabriola, fuhren dann zurück und holten das Boot.
Mittlerweile war es Sommer geworden. Wir fuhren die wilde Nordküste entlang nach Süden. Je weiter wir kamen, desto heißer wurde es, und die Salish Sea schien aus Sonnenlicht gesponnen zu sein. Die zerklüfteten Coastal Mountains flirrten in der Hitze wie riesige Kerzenflammen. Es war völlig windstill; wir tuckerten am Leuchtturm von Entrance Island vorbei und passierten die Nordküste von Gabriola.
Es war eine gute Entscheidung, auf diesem Weg in unserem neuen Zuhause anzukommen. Als wir durch die engen Kanäle an der Südspitze fuhren und in Silva Bay anlegten, waren wir mit einem Mal umringt von der Vergangenheit der Insel. Entlang der Küste liegen die versteckten Grabstätten der Küsten-Salish, die schon dreitausend Jahre hier gelebt hatten, als Captain José Narvaéz 1701 die Insel «entdeckte».
Wir machten beim Page’s Resort fest, wo die Fischer früher ihren Fang direkt an den schwimmenden Plattformen verkauft hatten, auf denen die Gäste ihre Zelte aufstellen konnten. Eine japanische Familie hatte das Resort in den 1930ern erbaut und es in den 40ern verloren, als die kanadische Regierung nach dem Angriff auf Pearl Harbor alle Japaner an der Westküste internieren ließ und ihren Besitz konfiszierte. Die Pages kauften das Areal, machten einen Hafen daraus, dem sie ihren Namen hinterließen. Als wir dorthin kamen, wurde das Hotel von Ted und Phyllis Reeve geführt.

An der Spitze des Anlegers flatterte eine merkwürdige Fahne: Ted hatte die Farben der alten Kolonie von Vancouver Island gehisst, die es seit 1866 nicht mehr gab. Die Flagge zeigte einen Merkurstab, der Handel und Industrie symbolisiert, aber ich hielt ihn fälschlicherweise für einen Asklepiosstab mit einer Schlange, und ich dachte, es handle sich um irgendein medizinisches Symbol. Ich fragte Ted, ob er Arzt sei. Ja, meinte er, das sei er. Jahre später erfuhr ich, dass er der Arzt war, der das erste Organtransplantationsteam der Provinz geleitet hatte. Phyllis war Universitätsbibliothekarin ge­-wesen. Sie führt den einzigen Buchladen der Insel und hat sich auf Titel und Autoren spezialisiert, die eine Verbindung zu Gabriola haben. Sie veranstaltet Buchpräsentationen und Lesungen in ihrem Wohnzimmer.
Das scheinen bemerkenswerte Leute zu sein, aber gemessen am Standard von Gabriola sind sie gar nicht so außergewöhnlich. Manchmal kommt mir die Insel wie ein Heim für alt gewordene Superhelden vor. Das Durchschnittsalter liegt bei 58, und die meisten Bewohner sind zugezogen und haben eine Vergangenheit, die sie am liebsten für sich behalten. Es kann passieren, dass die Person, die beim Einkaufen vor einem in der Schlange steht, ein berühmter Musiker ist, ein hochrangiges Mitglied der Regierung oder ein Träger des angesehenen Order of Canada. Es gibt drei davon auf Gabriola. Wenn man den Geschichten Glauben schenkt, könnte man sogar hinter einem Weltmeister im Eiskunstlaufen stehen, einem ehemaligen Football-Profi, einem echten Weltraumphysiker oder einem ausgedienten Spion aus dem Kalten Krieg. – Aber nicht alle Ge­schichten sind wahr.
«Wenn man um zwölf Uhr mittags noch keinen Klatsch gehört hat, muss man selbst welchen erfinden», lautet ein geflügeltes Wort auf Gabriola. Vor hundert Jahren holten die Inselbewohner ihre Post an einem Ort ab, der Gossip Corner heißt. Die moderne Version davon ist eine Facebook-Seite, wo die Leute lang und breit über all die großen und kleinen Fragen diskutieren, manchmal bis tief in die Nacht. Jemand fragte einmal, wie die korrekte Bezeichnung für den Bewohner einer Insel lautet, die liebevoll «Gabe» genannt wird. Gabriolaner? Oder Gabianer? Die Debatte dauerte mehrere Tage lang. – Jedes Thema kann zum Streit führen. Jede Bitte um Hilfe be­kommt Dutzende Antworten. Und ein kleines, alltägliches Drama erfährt eine breite, gemeinschaft­liche Unterstützung.

Diese Dualität ist typisch für Gabriola. Es ist der Charakter der «Insel der Künste», wie Gabriola gerne genannt wird. Von den viertausend Menschen, die hier leben, verdient jeder Siebzehnte seinen Lebensunterhalt als Künstler. Dadurch wird die Insel zu einem einzigartigen und zugleich wunderbaren Lebensumfeld. Es ist das künstlerische Temperament: «Ein Persönlichkeitsprofil, das in Extremfällen an Geisteskrankheit grenzt.» – Ich fühlte mich gleich wie zu Hause.
Die Menschen lieben die Natürlichkeit und Ursprünglichkeit ihrer Insel. Es gibt keine Ampeln und keine Straßenlaternen. Die einzige Tankstelle muss um zehn Uhr abends ihre Beleuchtung ausschalten. So will es das Gesetz. In den Frühlingsnächten ist das Quaken der Frösche das einzige Geräusch. Hirsche und Rehe wandern durch die Straßen und Gärten. Vor Jahren hat ein Hobbyzüchter seine exotischen Tiere freigelassen. Jetzt bevölkern die Nachkommen seiner Pfauen und Truthähne die nördliche Hälfte der Insel. In Mad Ronas Café oben auf dem Hügel über dem Fähranleger gucken die Truthähne im Vorbeigehen durch die Fenster. Die Autos bleiben oft stehen, um ein paar Vögel über die Straße zu lassen, was zu einer kleinen Schlange führen kann – mehr Stau ist auf Gabriola nicht möglich. Die meisten warten gutmütig und voller Geduld. Aber einmal fuhr jemand, der es eilig hatte, mitten in eine Schar Truthähne. – An diesem Abend war auf der Facebook-Seite der Teufel los. Jemand hat sogar eine Belohnung von 500 Dollar ausgesetzt, um den Fahrer ausfindig zu machen.
Leider ist dieses idyllische Leben nun in Gefahr. Die Provinz­regierung, die sich der Kosten für unseren Fährbetrieb entledigen will, plant eine Brücke vom Festland nach Gabriola. Wieder ist die Insel gespalten. Viele reizt die Vorstellung, nach Belieben kommen und gehen zu können, die Sicherheit eines jederzeit erreichbaren Krankenhauses in Nanaimo, das Ende der teuren Fähren. Aber genauso viele behaupten, der Preis für eine Brücke sei zu hoch, denn sie würde die Insel für immer verändern.
Auf Facebook streiten die Leute jetzt über die Definition des Wortes Insel. Ich halte es mit jenen, die sagen: «Richtige Inseln haben keine Brücken.» Es kann nicht wirklich eine Insel sein, wenn sie mühelos zu erreichen ist. Gabriolas schrulliger Charme hängt von der Isolation ab. Es gibt kein Wasserwerk – alles Wasser kommt von den Dächern und aus den Quellen, was dazu führt, dass mit allen Dingen, die uns die Natur schenkt, respektvoll umgegangen wird. Wenn nachts um halb zwölf die letzte Fähre angelegt hat, gehen auf Gabriola die Lichter aus. Selbst die wilden Truthähne verschwinden bei Sonnenuntergang und begeben sich auf den Telefonleitungen zur Ruhe. – Ich lebe gerne hier.
Mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Kontinente treibt auch Gabriola nach Süden und wird eines Tages, in Tausenden von Jahren, vor dem Festland auf Grund laufen. Das berührt mich nicht. Aber meine eigene Reise scheint an Fahrt aufgenommen zu haben.

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst