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Christian Signol

Vom Suchen und Finden des Glücks

Nr 187 | Juli 2015

Die Offenbarungen dessen, was vielleicht unser wahres Wesen ist, ergeben sich oft in der Begegnung mit einem bestimmten Ort der «ursprünglichen Welt». Sie tauchen in einem Moment auf, in dem wir sie nicht erwarten, zu alltäglichen, in keiner Weise ungewöhnlichen Zeiten, aber immer in Verbindung mit einem Ort und im Zusammenhang mit einer Entdeckung.
So wie an jenem Julimorgen am Flussufer, im langsam sich lichtenden Nebel. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen trafen gerade auf das dampfende Wasser entlang der Insel, auf der ein Reiher erwartungsvoll stand. Ich befand mich ebenso in einem Stadium der Erwartung. Aber was war daran so Außergewöhnliches? Ich hatte oft Sonnenaufgängen über dem Fluss beigewohnt. Und doch war an jenem Morgen das Licht wunderbar und beschwor eine Erinnerung herauf, viel älter als mein Bewusstsein. Nicht einmal das Laub der Espen rührte sich, und das Wasser erstarb in einer Stille, die von einer glücklichen Wiedervereinigung mit einem vergessen geglaubten Gefälle er­zählte, von einem unveränderlichen, immer anwesenden Grund des Seins.
In solchen Momenten hat mich immer wieder etwas wie eine Erinnerung in den größtmöglichen Glückszustand versetzt, der sich allen eitlen Reichtümern der Realität entzieht. Und wenn dieses Glück mir einmal entschwunden ist, weiß ich heute, dass es mir nur noch durch das Schreiben zugänglich ist. Deshalb dieses Buch, die Suche nach einem außergewöhnlichen Ort, an dem die Orchester schweigen. Und an dem trotz allem eine Musik weiterspielt, hinter dem Glas der Zeit, die manchmal auf geheimnisvolle, wunderbare Weise zu existieren aufhört.
Wir haben die Natur vergessen, doch es ist niemals zu spät, sich ihr zuzuwenden, um die Vögel wieder zu entdecken, die Wälder, die Berge, die Flüsse, den Geruch brennenden Holzes, die Schönheit der Früchte, den Gesang der Quellen, den Morgennebel, den von Gewitterwolken schweren Himmel, die Grillen am Abend und die Stille der Nächte. Es ist nicht zu spät, die Beziehung zu dieser Welt wieder aufzunehmen, den mit Heckenrosen ge­säumten Pfaden entlang der Weizenfelder zu folgen, deren Ähren im heißen Sommer sanft unter dem Porzellanblau des Himmels wogen. Es ist nie zu spät, selbst wenn man in der Stadt lebt,
den Kopf zu den Sternen zu heben, die Augen zu schließen, sie dann wieder zu öffnen – und zu spüren, wie die Erde langsam majestätisch im Ozean des immensen Universums treibt.
Ich habe immer gedacht, die Schönheit der Welt sei dazu be­stimmt, uns die tragische Kürze unseres Lebens vergessen zu machen. Nicht nur, dass wir dieser Erde, die uns trägt, die schlimmsten Verletzungen zufügen, vielmehr und vor allem verhalten wir uns ihr gegenüber wie Fremde – manchmal sogar wie Feinde – und sind nicht mehr in der Lage, zu sehen, wie außer­ordentlich schön sie ist.
Mein ganzes Leben lang habe ich einen Großteil meiner Zeit mit der Suche nach diesen wunderbaren Empfindungen in den Wäldern, auf den Bergen, in der Nähe der Flüsse oder auf den Wiesen verbracht. Ich bin überzeugt davon, dass die Erde die Er­innerung an eine Zeit bewahrt, in der wir noch nicht existierten – eine Erinnerung, die uns nur zugänglich ist, wenn wir uns ihr zuwenden.