Marie-Thérèse Schins

Was heißt hier rein?

Nr 189 | September 2015

Wege der Reinheit

Reinheit und Indien. Woran denkt man dabei? Diese Frage habe ich Schülern mehrfach gestellt. Die Antwort war oft: «Gibt es das überhaupt in Indien?» Auch ich hatte vor meiner ersten Reise nach Indien so wenig Ahnung. Nun, nach mehr als 20 Jahren Reisen durch diesen Kontinent, ist der Fluss Ganges für mich ins Zentrum der spirituellen und körperlichen Reinheit Indiens gerückt.
Anfänglich war es mein erster alter und weiser Yoga-Lehrer, der mit unendlicher Geduld die ersten Schritte zu den Asanas (Körper­haltungen) im Hatha-Yoga lehrte. Nichts begriff ich von all den anstrengenden Körperhaltungen aus dem 10. Jahrhundert, die das Ziel haben, durch Pranajamas (Atemkontrolle) zur inneren Reini­gung zu führen. Zwei weitere Lehrer führten mich auf den Weg der spirituellen Reinigung durch Meditation. In der Grundstruktur des Yantra (Diagramm), das als Hilfe für die Meditation genommen wird, steht der optische Mittelpunkt Bindu (Punkt) für die Quelle der Schöpfung. Intensive, körperliche Behandlungen der uralten indischen Medizin Ayurveda öffneten mir zudem eine neue Tür zur Reinheit in Indien.
Während ich diese Sätze schreibe, tauchen andere Reisebilder auf. Bilder aus dem alltäglichen Leben der Menschen in Indien, die für sich und in ihrer Welt eine eigene Reinheit ausüben …
Ein alter Mann geht Schritt für Schritt gelassen neben seiner mageren Kuh zu einem kleinen See. Er führt sie langsam in das sich kräuselnde Wasser, auf dem weiße Seerosen dümpeln. Im Licht der untergehenden Sonne öffnet er sein Lendentuch, taucht es ins schimmernde, rosafarbene Wasser ein und legt das feuchte Tuch auf den Widerrisst der Kuh. Mit behutsamen Bewegungen fängt er an, das Tier und später sich selbst zu waschen.
Mit einem einheimischen Boot bin ich am frühen Morgen auf den Kanälen im Norden von Kerala unterwegs. Der altersschwache Motor stottert und protestiert hin und wieder leise. Im Palmen­wald treten die Dorfbewohner aus ihren Hütten und Häusern in die noch klare, frische Morgenluft. Vorsichtig gehen sie vom Ufer aus ins ruhige Wasser. In Tücher gewickelt baden sie andächtig und scheinen ganz versunken in ihre Rituale.
Am Ende des Flussbetts ziehen kreischend Vögel ihre Runden über den Fischern, die sich ausruhen. Sie teilen sich Toddy-Schnaps und schreien mir mit rauhen Stimmen Worte zu, die ich nicht verstehe. Ungläubig starre ich auf sie und auf die Müllberge, die sich überall ausgebreitet haben wie riesige, beängstigende Krebsgeschwüre. Es riecht nach Menschenkot, Fäulnis und Verwesung. Nur wenige Minuten brauche ich für dieses Bild einer enthüllenden Zeiten­wende, einer zerstörenden Apokalypse meines Indienbildes über Reinheit.

In der kniehoch überschwemmten Stadt nach dem Monsunregen taste ich mir den Weg zu einer Hochzeitsfeier und hoffe, nicht in irgendeines der vielen Schlaglöcher zu treten. Ich möchte die Einladung zur Hindu-Hochzeit nicht verpassen. Der Festsaal liegt auf einem kleinen Hügel. Die Gäste klettern fröhlich schnatternd zum geschmückten Eingang. Von einer Frau neben mir erfahre ich, dass es Ein­schränkungen bei den Einladungen gibt. Alle, die ihre Menstruation haben, schwanger sind, Fleisch gegessen oder Alkohol getrunken haben, sollen nicht an der Hochzeit teilnehmen, weil sie rituell als unrein gelten. Das gilt auch für Ehepaare, deren Kind jünger als vier Wochen ist und für Trauernde auf Zeit. Die Braut lässt am Tag vor der Hochzeit rituelle Reinigungen über sich ergehen. Kurz vor der Trauung sieht sie noch einmal in einen Spiegel. Sie ist sich bewusst, dass sie in der kommenden Nacht ihre Reinheit und ihre Familie verliert und Eigentum der Familie des Bräutigams wird. Der erste Hochzeitssari, den sie an diesem Tag trägt, hat die Farbe weiß, die Farbe der Reinheit. Während der Zeremonie legt sie ihre Hand in die des Bräutigams. Die Hände werden mit einem weißen Schal bedeckt. Danach kleidet sich die Braut in einen roten Sari. Rot, die Farbe der Fruchtbarkeit.
Varanasi (auch Banaras genannt) ist die hinduistische Nachbarstadt von Sarnath. Es ist die Stadt von Shiwa, dem Gott der Reinigung und Zerstörung, am heiligen Fluss Ganges und Buddhisten ebenfalls heilig.
Vor sieben Jahren streifte ich mit Yajantha, einem jungen Journalisten, vor Sonnenaufgang durch die engen, noch stillen Gassen der mittelalterlichen, spirituellen Hauptstadt Indiens: Varanasi. Wir waren unterwegs zum Gangesufer, um dort mit gläubigen, badenden Pilgern die aufgehende Sonne zu begrüßen. Zum ersten Mal würde ich die Verbrennung von Verstorbenen am Ufer des Ganges erleben. Flammen und Rauchschwaden des ewigen Feuers in Varanasi trug ich sieben Jahre lang in mir herum.

Nun bin ich nach einigen Tagen in Delhi wieder am Ganges. Fern von Glitzerboulevards und Pracht­promenaden Delhis, wo in Nebenstraßen und Slums Menschen und Familien zwischen Müllbergen ihr Zuhause haben, wo die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich rasant und unaufhaltsam steigt.
Nach sieben Jahren stehe ich neben Yajantha hoch über der Shiwa-Stadt auf der Terrasse meines Guest-House mit atemberaubendem Blick auf die bunte Dächerlandschaft und den glitzernden Fluss Ganges. Yajantha ist Brahmane und inzwischen verheiratet mit einer Frau aus einer niedrigeren Kaste. Er hält nichts von der Einteilung nach ritueller Reinheit und Aufgabenbereich.
Durch Yajantha begreife ich, dass die indische Kultur der Reinheit so weitgreifend, so umfassend, so unbegreiflich für mich bleiben wird, dass ich auf der Dachterrasse am heiligen Fluss entscheide, mich von ihm durch diese Stadt des ewigen Lichts (Kashi) führen zu lassen. Fünf Tage lang glaube ich, an seiner Hand durch Bilder von Hieronymus Bosch zu gehen. Sadhus, heilige Männer, die wie mittel­alterliche Gaukler aussehen, überall Bettler, spielende Kinder, die am Rand der Verbrennungsorte für obere und untere Kasten spielen und ihre Drachen steigen lassen, Sterbende, mitten auf der Straße. Kühe, deren Hörner mit gesegneten Blumengirlanden geschmückt sind, trommelnde Priester im gleißenden Kerzenlicht bei reinigenden Abendritualen am Flussufer: Himmel und Hölle sind über­all und gleichzeitig da. Die Symbolik und Tragweite der Bilder von Bosch sind allgegenwärtig an diesem rätselhaften, geheimnisvollen Ort der Verneigung vor der Göttin Ganga. Dort spielt am frühen Morgen zwischen zerfallenen Palästen und bröckelnden Fassaden das Kastenwesen im Wasser keine Rolle mehr. An den fünf wichtigsten Ghats, den Badeplätzen, wird der Kern des klassischen Reinigungs-Zyklus zelebriert. Einige Schritte weiter baden dennoch «Unberührbare» ihre Verstorbenen noch einmal im Ganges­wasser. Wenn die Toten sich im Radius von fünf Meilen des Panchakroshni-Tempels befinden, gibt es für die Seele die Chance, ins Nirwana zu kommen.
In Indien habe ich gelernt und akzeptiert, dass Religion und Wissenschaft dort zwei Wege auf der großen Suche nach der Erleuchtung sind. Dass die Zeit weder einen Anfang noch ein Ende hat und es somit nicht nur einen einzigen Schöpfer gibt. Und dass ein anderes Verständnis als unseres für das Göttliche und die Reinheit praktiziert wird.