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Jesse Browner

Alles geschieht heute

Nr 189 | September 2015

gelesen von Simone Lambert

Es ist ein einziger Tag im Leben des siebzehnjährigen Wes, den dieser Roman aufzeichnet. Der Tag nach der Partynacht, in der er seine Unschuld verlor. Der Samstag vor dem Abgabe­termin einer Facharbeit über Krieg und Frieden von Tolstoi am Montag. Der Tag, an dem er ein ambitioniertes Dinner für seine zerrüttete Familie kochen will. Um diese Essensvorbereitungen herum ordnen sich seine sozialen Begegnungen und seine Ge­danken, Erinnerungen, Reflexionen.
Wes geht auf eine Eliteschule in Manhattan und wohnt mit seiner Familie – der sterbenskranken Mutter, dem desillusionierten Vater, den er verachtet, und seiner geliebten jüngeren Schwester Nora – in einem heruntergekommenen Haus in Greenwich Village. Übermüdet, voller Zweifel und Sorgen betrachtet er seinen moralischen Zusammenbruch, denn als solchen empfindet er die Nacht mit Lucy. Seine reine Liebe für Delia, die unnahbare Buddhistin, hat er verraten, als er mit Lucy, die als promiskuitiv gilt, geschlafen hat. Sein Freund James ist derjenige, der ihm die Wahrheit ins Gesicht sagt: «Welche Sache mit Delia? Da ist nichts mit Delia. Eine Sache mit Delia hat es nie gegeben, das ist alles nur in deinem Kopf und steckt da fest wie ein Schrapnellsplitter.»
Jesse Browner zeigt die Frauenfiguren seines Entwicklungsromans als lebensechte Charaktere, nicht als falsche oder richtige Option. Die schicksalhafte Entscheidung von Wes zwischen der klugen Delia, die nach seiner Hand greift, und der schwer fassbaren Lucy fällt, als diese via SMS von nebenan («Bin im Zimmer, such mich») ein verführerisches Versteckspiel mit ihm spielt. Lucy überrascht Wes mehrfach. Sie ist mit ihrer Stabilität und Integrität der Hoffnungs­schimmer in der Geschichte – und die Person, an der sich Wes wieder aufrichten wird.
Wie lebt es sich, wenn man von sich selbst enttäuscht ist? Es ist diese am Selbstkonzept nagende Erkenntnis, die Wes seinen Vater schließlich verstehen lässt. Wes ist verantwortungsbewusst, ehrgeizig und loyal. Er will ein guter Mensch sein, ein zärtlicher Mann, sorgt sich liebevoll um seine kleine Schwester und pflegt seine Mutter. Er zweifelt an sich selbst ebenso wie an seiner Liebe und macht sich kluge Gedanken über Figuren aus Tolstois Roman. Mit Wes erhält die zeitlose Existenzangst Jugendlicher vor dem eigenen Weg ein modernes Gesicht.
Am Ende des Romans, am Ende des Tages sitzen Wes und die Frauen in seinem Leben – Nora, seine Mutter und Lucy – im Krankenzimmer der Mutter. Bei gedimmtem Licht essen sie das Kalbsbries, das er so aufwendig zubereitet hat, und sehen gemeinsam einen Malkurs auf DVD. Die Facharbeit hat er noch nicht einmal begonnen. Sein Vater hat sich dem Dinner verweigert, das Essen wird kaum angerührt. In diesem Augenblick versteht er, dass das Leben und die Liebe sich nicht ereignen, wenn die Dinge richtig und nach Plan gemacht werden, sondern sie sich, in all ihrer Fragilität, organisch entfalten können, weil man sich anständig verhält. «Nicht die Liebe war schwierig, sondern die Botschaft der Liebe … Und was ihm gerade geschehen war, war, dass er Lucy auf exakt die Weise in die Augen gesehen hatte, wie er es sich immer gewünscht hatte, dass Delia es mit ihm täte, und in diesen Augen tatsächlich eine Botschaft gefunden hatte.»

Ehrlich, intensiv und schmerzlich erzählt Alles geschieht heute über einen bemerkenswerten jungen Mann. Ein kleines Wunder von einem Roman.

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