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Erna Sassen

Wut ist ein Motor – Angst lähmt

Nr 189 | September 2015

Als Kind war ich sehr oft böse. Böse, weil ich immer von Er­wachsenen abhängig war, zu Hause ebenso wie in der Schule. Leider konnte ich mit meiner Wut nirgendwohin. Meine Mutter hatte ganz andere Dinge im Kopf, nämlich einen psychisch kranken, chronisch depressiven Ehemann. Kinder spüren untrüglich, dass sie sich in solch einer familiären Situation nicht beliebt machen, indem sie noch zusätzliche Probleme aufwerfen. Also halten sie sich be­deckt und passen sich den Bedürfnissen der Eltern an.
Ich werfe es meinem Vater nicht vor, dass er an Depressionen litt, im Gegenteil; ich hatte als Kind und auch noch, als ich älter wurde, Mitleid mit ihm. Worunter ich als Kind gelitten habe, war, dass es keinen Raum für meinen Kummer gab. Und der beinhaltete, dass wir alle (meine Schwester, meine beiden Brüder und ich) ständig Rücksicht auf die Überempfindlichkeit meines Vaters nahmen und unsere eigenen Bedürfnisse den seinen unterwerfen mussten. Wir durften keinen Lärm machen, also auch nicht lautstark fröhlich sein und erst recht nicht böse, durften weder Unordnung, Chaos noch Probleme verursachen und nicht zu viel Aufmerksamkeit von unserer Mutter beanspruchen.
Meine innere Wut wuchs mit den Jahren, wie das so geht mit Wut, die unterdrückt werden muss, und richtete sich zuletzt gegen mich selbst. In der Pubertät entwickelte ich eine schwere Essstörung, die letztendlich elf Jahre dauern sollte.
Ich weiß, dass mein Essproblem ein Signal war, und zwar ein recht deutliches, wahrscheinlich gedacht für meine Eltern. Im Stillen und für niemanden sichtbar, ja sogar lautlos erbrach ich meine ganze Wut und meinen ganzen Widerwillen dem Leben gegenüber.
Zurzeit läuft auch bei mir zu Hause eine Pubertierende herum. Ein großartiges, sechzehn Jahre altes Mädchen. Wenn sie mal wieder die Türen zuknallt oder mit den Füßen stampft, zucke ich zusammen. Wenn sie schlechte Laune hat, möchte ich nichts lieber, als sie schnellst­möglich wieder aufmuntern.
Mein buddhistischer Coach fleht mich an: «Gönne deiner Tochter ihre ‹negativen› Gefühle! Wut, Trauer und Negativi­tät gehören zum Leben, und sie soll lernen, damit umzugehen. Sie soll ihre eigenen Gefühle kennenlernen, denn sie soll wissen, wer sie ist. Wenn du ihr beibringst, dass sie sich bei euch zu Hause, an dem Ort, der für sie der sicherste sein sollte, zusammennehmen und ihre negativen Gefühle unterdrücken muss, dann bekommt sie zuletzt Angst davor. Dann schlägt ihre Wut in Angst um.»
So wie bei mir geschehen. Der Coach machte mir klar, dass ich es meiner Tochter schuldig bin, das Muster, in dem ich selbst erzogen wurde, zu durchbrechen.
Weil ich als Kind meine Wut und Trauer daheim nicht zeigen konnte, war meine Schlussfolgerung, sie auch nicht fühlen zu dürfen, denn derartige Gefühle wären falsch. Ich versuchte, diese «falschen» Gefühle zu unterdrücken, was zur Folge hatte, dass sie mich zuletzt überfluteten.
Ich lerne an meiner Tochter, dass Gefühle vorübergehen. Dass sie sich umso leichter wieder verziehen, je weniger man sie unterdrückt oder sich an sie klammert. Ihre Wutanfälle dauern nie lange. Und wenn sie traurig ist, brauche ich nicht für sie die Lösung zu finden. Manchmal will sie mir ihre Geschichte erzählen und manchmal nicht. Sie ist ziemlich deutlich. Wenn man gut hinschaut.
Das ist vielleicht unsere wichtigste Aufgabe als Erziehende: gut hinzuschauen und hinzuhören bei unseren Kindern. Und uns nicht vor dem zu fürchten, was sie zu sagen haben. Pubertierende geben Signale. Vielleicht nicht viele. Und vielleicht nicht oft. Aber wer sich über seine eigene Angst hinwegsetzt, kann eine Menge von ihnen lernen!