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Katarina Genar

Geschichten mit Geschichte

Nr 190 | Oktober 2015

Mein erstes Buch schrieb ich, als ich in Elternzeit war und meinen Beruf als Logopädin vorübergehend nicht ausübte. Sobald die Gedanken an die Arbeit von mir abgefallen waren, tat sich ein Raum für die Fantasie und das Schreiben auf. Jetzt, gut zehn Jahre später, widme ich mich ganz dem Schreiben. Meist sitze ich dabei zu Hause am Küchentisch – mit einer Tasse Tee in Reichweite und dem Hund zu meinen Füßen. Ab und zu mache ich mit ihm einen Spazier­gang im Wald und lasse die Gedanken schweifen. Dabei habe ich manchmal die besten Einfälle – und dann heißt es: zurück in meine Küche und an den Computer eilen.
Die Hauptpersonen in meinen Geschichten sind ungefähr 11 Jahre alt. Das ist ein Alter, an das ich mich sehr gut erinnere – eine spannende Zeit, in der man beginnt, die Welt auf eigene Faust zu erforschen und sich etwas freier und ohne Erwachsene zu bewegen.
Meine Inspirationsquellen sind oft Orte und alte Dinge, die eine Geschichte haben. Was ich erzähle, ist alltagsnah, aber Magie und Mystik blitzen immer wieder durch, die Gegenstände und Orte wirken beseelt.
In meinem Debüt Heimliche Freundin zieht Henrietta, die Haupt­person, in ein altes Haus. Inspiriert dazu hatte mich das Haus meiner Großmutter. Ihre riesige Wohnung war für mich ein magischer Ort. Da gab es dunkle, geheimnisvolle Bilder an den Wänden, schwarz-weiße Fotografien und Uhren, die laut tickten und jede volle Stunde mit dumpfen Schlägen ankündigten. In diesem Haus wohnten nur alte Leute, genau wie bei Henrietta. In meiner Geschichte gibt es im Hof außerdem zwei quietschende Schaukeln, von denen es heißt, sie seien gefährlich. Eines Abends sieht Henrietta ein kleines Mädchen mit roter Mütze auf die Schaukeln zulaufen und halsbrecherisch darauf schaukeln … Wer ist das?
Die Inspiration zu meinem Buch Der rubinrote Mantel kam auf einem Friedhof, als ich einen kleinen, verwitterten Grabstein mit einem Mädchennamen entdeckte. Ich fragte mich, wie das Leben dieses Mädchens ausgesehen haben mochte, und kam auf die Idee, ein Buch mit zwei parallelen Geschichten zu schreiben. Die Haupt­figur Livia bekommt einen roten Mantel, der früher einem Mädchen namens Elin gehört hat, das in den 30er-Jahren des 20. Jahr­hunderts lebte. Die Geschichten der beiden Figuren sind durch den roten Mantel und Tagebuchaufzeichnungen miteinander verflochten. Aber hat der Mantel wirklich eine «Seele»? Oder ist alles nur Zufall? Nicht alle Fragen werden beantwortet, manche Puzzleteile muss der Leser selbst einfügen.
Als Kind war ich eine richtige Leseratte, die ständig mehrere Bücher gleichzeitig verschlang. Mein tiefstes Lektüre-Erlebnis war Maria Gripes Jugendroman Agnes Cecilia (dt. Sonntagskinder hören das Gras wachsen), ein Buch, das mich und mein Schreiben geprägt hat. Es lebt von einer suggestiven Spannung, die mich ansprach, aber auch von intensiven Gedanken über das Leben, von Gefühlen der Einsamkeit und des Außenseitertums und dem Suchen nach Zusammenhang; Themen, die ich auch in meinen Geschichten berühre.
Wenn ich nicht dasitze und schreibe, begegne ich meinen Lesern in Schulen und Bibliotheken. Dort kann ich Gespräche über meine Bücher führen und wertvolle Rückmeldungen bekommen. Manchmal werde ich gefragt, was beim Geschichtenschreiben am meisten Spaß macht. Für mich ist es der Augenblick, wenn die Charaktere plötzlich lebendig werden und ich mit Leichtigkeit zwischen meinem Alltag und der parallelen Welt, die ich aus Worten geschaffen habe, hin und her wechseln kann. Das ist ein großartiges Gefühl.