Ralf Lilienthal

Jeder Mensch sollte seinen Turm haben

Nr 191 | November 2015

Seit 1385 ist das Türmeramt auf Münsters St. Lamberti schriftlich bezeugt und es existiert, mit kurzen Unterbrechungen, bis heute. Doch während die Turmwächter in früheren Jahrhunderten wie die Henker, Totengräber, Kesselflicker und das Fahrende Volk als «ehrlos» galten, stehen Münsters St. Lamberti-Türmer heutzutage im wohlwollenden (Medien-)Licht der Öffentlichkeit.

Es ist ein Tag der Anachronismen. Schon gleich zu Beginn. Ange­kommen in Münster, auf dem Weg zur ersten Begegnung mit seinen drei Gesprächspartnern, schlängelt sich der Reporter vorbei an Straßenmusikern, an flanierenden und speisenden Bürgern – vorbei an den Besuchern des Festakts zur Verleihung des Euro­päischen Kultur-Erbe-Siegels an die beiden Städte des Westfälischen Friedens Münster und Osnabrück.
Anachronismen, wohin das schweifende Auge blickt. Hier die im Ge­denken aufgeschlagene Stadtchronik samt der ganz großen Ge­schichte, dort, mit einem drolligen Anspruch auf Bedeut­samkeit, der eigens eingerichtete Platz für ein smartes «Selfie mit Rathaus». Auch später, in der Stube des Stadt­hausturms, während Manfred Schneider auf dem historischen Glockenspiel gleich ein gutes Dutzend assoziationsreicher Musikstücke spielt, verschlingen sich diverse Zeitstränge: An den Westfälischen Frieden wird erinnert, an den Gründungstag der Vereinigten Niederlande – und die Erkennungsmelodien des modernen vereinigten Europas erklingen.
Anachronismen – auch was das Glocken-Spiel betrifft, dieses altertümliche und ganz sicher «unmoderne» Instrument, das von dem geschichtsbewussten und -begeisterten Musiker jedoch über einen Laptop digital angesteuert und dessen Timing im Fest­geschehen mobil­telefonisch geregelt wird.
Auch nach dem nächsten Szenenwechsel vexieren die Zeiten und Protagonisten. «Gott zum Gruße, ihr Bürgerinnen und Bürger und Gäste dieser Stadt, Wohlgeborene und Gemeine …» Der da vor einer Gruppe Münstertouristen im Nachtwächtermantel und -hut auftaucht und seine nach altem «Teutsch» klingende, wohlgesetzte Ansprache hält, ist nicht aus dieser Zeit. Der junge, eloquente Student der Kulturwissenschaften dagegen, als der er sich später entpuppt, steht mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Gegenwart und lässt den Reporter einen Blick hinter die kluge Choreographie der scheinbar simplen Nachtwächterführung durch Münsters Leben «im Jahre des Herrn 1660» werfen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

«Die Wanderung durch die nächtliche Stadt folgt zwar einem ausgearbeiteten Skript, eine gesunde Portion Improvisation darf aber nicht fehlen», erklärt Torsten Albers. Und gerade dieser Teil, das möchte man angesichts der Originalität und Schlagfertigkeit des jungen Mannes sagen, gerade die Improvisation macht es aus! Dabei verlässt er kaum je den vorgegebenen historischen Horizont und schickt die Besucher aus dem 21. Jahrhundert zurück in die noch vom Mittelalter geprägte Stadtkultur des alten Münster, bis irgendwann selbst die Nase das «Blut und Fett der Metzgerstuben, die gekochten Tierhäute und Knochen der Leim- und Seifensieder» zu riechen glaubt. – Und natürlich bleibt auch das geheimnisvolle halb­stündige Horn­signal aus der Höhe nicht unerwähnt: «Dort oben sitzt er, mein Kollege, der Turmwächter von St. Lamberti.* Mit Argusaugen hält er Ausschau nach herannahenden Feinden und Feuersbrünsten!»
Und schon wieder wechselt die historische Perspektive. Denn während der Türmerzeitgenosse des Nachtwächters in jenen fernen Jahrhunderten ganz sicher ein «Er», also männlichen Geschlechts war, bläst in der jüngsten Gegenwart eine «Sie», Martje Saljé, die erste Münsteraner Türmerin überhaupt, das archaische Signal­instrument.
Zu ihr hinauf kommt man nur in Ausnahmefällen – mangelhafte Fluchtwege und damit die Sicherheitsvorschriften eines öffent­l­ichen Gebäudes diktieren es so. Kommt man doch hinauf, dann nur Stufe um Stufe im schwerer und schwerer werdenden Wendel­schritt. 298 mühselige Tritte lang. 75 Meter über dem «Drubbel», wie die Verlängerung des Prinzipalmarkts hier heißt, betritt der Besucher schließlich voller Neugierde die Türmer­stube. Die ist klein, ge­mütlich und, so wird versichert, wohl auch im Winter leidlich warm. In den Blick fallen diverse Musik­instrumente, Bücher, Bilder, ein einsatzbereiter Laptop und – wesentliches Berufsgerät – das krumme Türmerhorn aus Holz und Kupfer. Lange allerdings verweilt der Blick nicht auf dem Interieur der Stube, das lässt die übersprudelnde Vitalität der Gastgeberin auf St. Lamberti kaum zu.

Martje Saljé ist jetzt und hier in ihrem Element. Genauer gesagt, sie ist gleich mehrfach in ihrem Element. Unmittelbar erlebbar ist ihre Erzählfreude und -Fähigkeit: schnell, viel, anschaulich, informativ und präzise. Die Türmerin von St. Lamberti redet und zieht den Besucher mit wenigen Sätzen in den Bann ihrer Person, der, was auch schnell klar wird, zugleich der Bann des «Hohen Amtes» ist («ich bekleide das höchste Amt der Stadt!»). Und während sie bald in großem biographischem Bogen erzählt, wird unmittelbar deutlich, dass bei der Neubesetzung des Türmeramtes zum Jahreswechsel 2013/2014 durch eine geheime Schicksals-Alchemie mit Turm und Türmerin zwei Elemente zusammengefunden haben, deren Mischung etwas Neues, Besonderes entstehen ließ.
«Retrospektiv betrachtet, muss ich sagen, dass ich offensichtlich für das Amt prädestiniert war. Schon als ganz kleines Kind haben mich Leuchttürme, Burgtürme und auch Berge magisch angezogen. Sobald ich einen Ausguck sah, musste ich da hinauf». Auch ihr gewundener Berufsweg sieht von rückwärts betrachtet wie eine goldene Spur aus, die beinahe zwangsläufig bis zur Turmpforte von St. Lamberti führte. Geschichtslehrerin wollte sie werden, wenngleich ihr dann die Arbeit in einem Schulkollegium weit weniger Freude bereitete als das Unterrichten lernbegieriger Kinder. «Irgendwann bin ich ausgestiegen und habe nur noch Musik gemacht.» Schließlich konnte sie auch das ganz gut, hatte auch Musikwissenschaft studiert und sich musizierend ihr Studium verdient. «Klassik, Tanz- und Unter­haltungsmusik für Geburtstags- und sonstige Feiern, Folk-Entertainment als Hexe oder Schankmaid auf Mittelaltermärkten – Historytainment! Ich bin mit Gesang, Mandoline oder E-Bass mit diversen Bands und Solo viel herumgekommen – bis nach Frankreich und Großbritannien, aber auch ins Tonstudio zu Plattenaufnahmen.»
Während Martje Saljé erzählt, wandert ihr Blick regelmäßig hinüber zum atomuhrgenau gehenden Wecker, denn der Türmeralltag (zwischen 21 Uhr und Mitternacht) ist durch das halbstündige Hornsignal («Tuten» genannt) streng getaktet. Dazu wirft sie – stilgerecht und imponierend – den blauen, wollwarmen Türmermantel um, tritt hinaus auf den luftigen Umgang, wartet das Geläut der umliegenden Kirchturmglocken ab und bläst dann das für die jeweilige Stunde festgelegte Zeitsignal an: zuerst gegen den Lambertusbrunnen, dann zur Domseite und schließlich in Richtung «Drubbel».**

Auch wenn in unseren Tagen feindliche Angriffe nicht zu befürchten sind und es modernere Formen des Feueralarms gibt – nach wie vor gehört auch das Absuchen der Stadthorizonte zum Türmerin-Geschäft. Und wenn sie, wie geschehen, tatsächlich ein Feuer sichtet, greift sie zuerst zum Telefon und informiert die Feuerwehr, bevor sie die Staccato-Tonfolge für «Gefahr» tutet.
Zurück in der «Amtsstube» geht es auf die Zielgerade der biographischen Erzählung. «Ich habe die bundesweite Ausschreibung der Städtischen Türmerhalbtagsstelle ‹zufällig› gelesen und war dann einer von sechsundvierzig Bewerbern.» Je mehr Martje Saljé über das zu besetzende Amt erfährt, desto größer ist ihre Begeisterung, desto leidenschaftlicher ihr Bewerbungsengagement. «Es schien mir die beste Stelle der Welt zu sein – und ich war mir sicher: Ich gehöre da hin! Am Ende waren dann nur noch zwei Bewerber im Rennen: ein männlicher, katholischer Münsteraner und eine weibliche, evangelisch-lutherische Zugezogene», die allerdings, mit pro­fundem historischem Wissen, mit einer Affinität zu den neuen Kommunikationsmedien und – Martje Saljé hat als Kind lange Jahre in Norwegen gelebt – mit ihrer «europäischen Biographie» offensichtlich auch in den Augen der Stadtoberen perfekt auf den Turm von St. Lamberti passte!
Und was so herum ideal zu sein scheint, fühlt sich auch anders­herum gut an, denn die neue Türmerin von St. Lamberti ist beliebt. In Münster sowieso, in den klassischen Medien auch und nicht zuletzt in der Welt der Poster und Blogger. «Es gibt seit meinen ersten Tagen im Amt den Türmerin-von-Münster-Blog für die ausführlichen Informationen. Und daneben meine kürzeren, oft ziemlich spontanen facebook-Posts. Gerade die kommen auch bei jungen Leuten gut an, die auf einmal beginnen, sich für Stadt­geschichte zu interessieren. Und dann wieder hältst du plötzlich einen in Sütterlinschrift geschriebenen, rührenden Brief eines Münchener Poeten in der Hand. Das ist ein ganz schönes Spektrum und ziemlich spannend!»

Tatsächlich ist alles, was die erst 35 Jahre junge Frau berichtet, kurzweilig und spannend. Mehr noch. Denn während ihr Erzählfaden zwischen Stadt-, Türmer- und Kirchengeschichte, zwischen dem Turmalltag, ihrer Präsenz auf Märkten, in Schulen oder Vereins­treffen und der Recherchearbeit in den städtischen Archiven, hin- und herschießt, wird in dem dabei entstehenden Gewebe ge­legent­lich der goldene Faden sichtbar, den ein geheimnisvolles Schicksal mit hineingewoben hat: «Bei der Amtseinführung hat mein Vor­gänger gesagt, dass die Euphorie, die ich an den Tag lege, sich nach und nach legen wird. Aber das ist nicht so. Ich mag Rituale und genieße feste Strukturen. Gleichzeitig kann ich hier eigene Akzente setzen. Alles verändert sich – und doch bleiben die Elemente gleich. Das ist wie mit den Jahreszeiten, deren Wiederkehr und Metamorphosen ich hier oben wunderbar verfolgen kann.»
«Jeder Mensch sollte seinen Turm haben. Stufe für Stufe entfernt man sich vom Alltag, man atmet freier, ist näher am Himmel – bei Gott.» Euphorie, Schwärmerei? Martje Saljés Türmer-Hymnus, der Unterton ihrer sämtlichen Erzählungen, ist glaubwürdig und sicher verankert: «Meine Mutter, eine weise Frau, hat mir einmal gesagt: ‹Man merkt, wenn man da ist, wo man hingehört!› Und genauso ist es hier! Das erfüllt mich mit so großem Glück – das werde ich auch in 100 Jahren noch lieben!»