Börries Hornemann

Was heißt hier fair?

Nr 191 | November 2015

Regeln, die das Leben schreibt

Professor Higgins reizt die Wette: Wenn es die einfache Eliza Doolittle innerhalb von sechs Monaten schafft, die Gossensprache ihrer Heimat abzulegen, sodass sie als Dame durchgeht, hat er gewonnen und Oberst Pickering trägt die Unterrichtskosten. Wenn nicht, zeigt es, wie tief die Sprache unser Sein und Werden prägt. Doch die beiden haben die Wette ohne Eliza gemacht. Sie entwickelt nicht nur rasch ihre Sprache, sondern bezaubert die ge­hobene Gesellschaft mit ihrer erfrischenden Unbeschwertheit. Soweit die Story. Samt Liebesgeschichte und Happy End ist das Musical weltbekannt. Im Original spricht Eliza ein Cockney-Englisch aus Mayfair London, das mal als derbes Berlinerisch, mal als schnoddriges Wienerisch übersetzt wurde. Nicht übersetzt wird hingegen der Titel: My Fair Lady. Schon das zeigt die Viel­schichtigkeit von fair – es bezieht sich auf Elizas Heimatviertel Mayfair, die Schönheit der jungen Frau und ihre Arbeit als Markt­frau (fair meint Messe, Jahrmarkt, Volksfest).
Viele Worte gehen mit der Zeit aus anderen Sprachen in unseren Wortschatz über. Manche erkennt man an ihrer Schreibweise, bei anderen passt sich diese mit der Zeit an. Während der Friseur an Frankreich erinnert, ist der Frisör so deutsch wie Schäferhunde. Im Russischen heißt der gleiche Beruf Parikmacher, also wörtlich «Perückenmacher», was die Herkunft verrät, kyrillisch geschrieben aber ganz anders aussieht. Auch haben Worte ihre Zeit. Ein Schiller-Drama zeigt, dass damals anders geschrieben und gesprochen, ja wohl auch anders gedacht wurde. Es ist gar nicht lange her, da sagte man zu allem «cool»; jetzt ist «cool» nicht mehr unbedingt cool. Was heute zählt, ist, dass es fair sei: unser Essen, unsere Technik und unsere Kleidung. Als Wort kam fair im 19. Jahr­hundert aus dem Englischen ins Deutsche. Was aber bedeutet «fair»?
Fair taucht immer dann auf, wenn es ums Soziale geht. Mir selbst kann ich zwar gerecht werden, nicht aber fair. Es braucht ein Gegenüber, besser: einen Mitmenschen. Fair beschreibt ein Ver­hältnis und handelt vom Geben und Nehmen.
Eine Bedeutungsebene, die sofort einleuchtet, ist die der Ge­rechtig­keit. Im Rechtsstaat spricht man vom «fairen Verfahren». Dennoch ist fair kein reiner Rechtsbegriff; zudem sind gerecht und fair nicht identisch. Fair zeigt ein Verhalten an, durch das der oder die andere in besonderer Weise respektiert wird, bis dahin, dass ein eigener Nachteil in Kauf genommen wird, ohne dass konkrete Regeln dazu verpflichten. Es gleicht einem Gebot aus dem Inneren, aus moralischer Intuition. Das weist auf einen Freiheitsbegriff hin.
Die Ritterkämpfe des Mittelalters hatten strenge Regeln. Hinzu kam das sprichwörtlich «ritterliche Verhalten». Wer dieses zum eigenen Vorteil missachtete, wurde auch nach siegreichem Kampf nicht geachtet.
Diese Geste des Ritters steckt in der heutigen Fairness. Für die Neuzeit formulierte die Französische Revolution – Freiheit, Gleich­heit, Brüderlichkeit. Keineswegs hieß es Freiheit, Gleichheit, Gerechtig­keit. Letztere entsteht vielmehr, wenn alle drei Ideale im rechten Verhältnis zueinander stehen und im passenden Lebens­bereich Anwendung finden. Heute würde vielleicht anstelle der Brüderlichkeit die Fairness stehen, als Begriff des gelingenden sozialen Miteinanders, des brüderlichen Wirtschaftens. Hier ist fair ein Begriff aus dem Wirtschaftsleben.

Bei Fairtrade-Produkten unterstütze ich mit meinem Konsum die Menschen, die für mich etwas herstellen. Mein T-Shirt kostet 30 Euro, davon steckt weniger als 1 Euro in der Produktion, der Rest ist Marktwirtschaft. Bei einem «fairen Handel» geht ein klein wenig mehr an die ursprünglichen Produzenten – die Bauern, die Baum­wollpflücker, die Menschen in der Spinnerei, in der Näherei, in der Färberei etc. Dabei hat Fairtrade viel mit dem eigenen Gewissen zu tun. Ich kaufe und bin dabei nicht einzig auf meinen Vorteil bedacht. Eine win-win-Situation – beide Seiten profitieren. Immer wenn ich unverhältnismäßig billig produzierte Ware kaufe, bestelle ich neue Waren gleicher Art und unterstütze die menschenverachtenden Umstände, die heute der Normalfall sind.
Einen Unterschied macht schon, wer wenigstens versucht, etwas zu ändern. Beispielsweise das Team von FairPhone. Eine Truppe von jungen IT-Entwicklern stellte 2013 in Holland ein Smartphone vor, das fairer hergestellt ist. Auch sie schaffen es zwar nicht, alles fair zu produzieren, aber der Versuch zeigt, was möglich und gewünscht ist, und schafft ein neues Geschäftsfeld. Hier geht es nicht um möglichst billig, sondern der Preis ist nur noch ein wertgebendes Kriterium, so auch die Fairness. Mittlerweile sind 60.000 FairPhones verkauft; ein neues Modell ist in Arbeit und kann bestellt werden.
Immer, wenn ein Begriff den Zeitgeist trifft, springen Trittbrettfahrer auf. So wird der Toiletten­gang an der Autobahnraststätte zum «fairen Ereignis», wenn man die Firma Sanifair beim Namen nimmt. Ebenso wird im Profisport überall fairplay propagiert. Zumeist schreien hierbei die am lautesten, bei denen später Doping ans Tageslicht kommt. In der Leichtathletik, beim Schwimmen, Radfahren oder auch beim Fußball – Doping ist allgegenwärtig und wird mit dem Begriff der «sportlichen Fairness» kaschiert. Beim europäischen Fußballverband UEFA gibt es sogar ein financial fairplay, mit dem das Verschulden der Klubs unterbunden werden soll. Aber woher stammt das Geld für die Spielertransfers in schwindelerregenden Millionenhöhen? Von arabischen Ölscheichs, russischen Energieoligarchen oder gigantischen Versicherungskonzernen. Ist das fair?
Es nimmt nicht Wunder, dass fair heute an der Zeit ist. Mein Bewusstsein wird zunehmend international und nimmt Anteil am Schicksal der ganzen Menschheit. Mir ist nicht egal, wer meine Konsumgüter herstellt. Ich stehe in einer Beziehung zu jedem Menschen auf der Welt. Es kann nicht nur um mich gehen (dann wäre möglichst billig das Ziel) oder nur um den anderen (dann würde ich spenden), sondern es geht um uns und unser Miteinander.
Das zeigt: Fair ist ein zukünftiger Begriff für das weltumspannende Sozialbewusstsein. Ich kann mich nicht mehr auf meinem kleinen Glück ausruhen und den Rest der Welt ignorieren. Mein Konsum gestaltet mit an der Welt. Ich trage für mein Verhalten selbst die Verantwortung. Das ist gesetzlich nicht geregelt – fair kann nicht vorgeschrieben werden. Fairness entsteht im Miteinander. Es sind Regeln, die das Leben schreibt, die mehr sind als die Summe aller und von keinem Einzelnen bestimmt werden. Immer wenn ich ganz Ich selbst bin, werde ich mir meines Menschseins bewusst und gestalte mit an einem fairen Wir.