Ilija Trojanow im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Denkwiderstand überwinden

Nr 193 | Januar 2016

Manchmal beschäftigt ein Buch uns lange, auch wenn wir uns mit seinem Thema eigentlich nicht näher befassen wollten. So kann es dem Leser mit dem neuesten Buch des Schriftstellers, Übersetzers und Verlegers Ilija Trojanow gehen, seinem Roman «Macht und Widerstand». Ilija Trojanow wurde in Bulgarien geboren; als er sechs Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo die Familie politisches Asyl erhielt. Er erzählt die Geschichte zweier Männer in Bulgarien zwischen 1944 und 2007: Konstantin leistete Widerstand, weil er die Verhältnisse unerträglich fand, und verbrachte Jahre als politischer Gefangener in Lagern, wurde gefoltert. Metodi will die Ordnung bewahren, damals und heute, war Stasi-Offizier (Stasi = Staatssicherheit) und nach der politischen Wende 1989 erfolgreicher Politiker und Unternehmer. Für Ilija Trojanow ist «der Roman die richtige Form für offene Fragen, große persönliche Fragen an jeden von uns. Er schubst uns an, jenseits unseres alltäglichen Trotts – zum Nachdenken.» Nachdenken als ein Weg mit offenem Ziel.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Trojanow, Bulgarien ist für deutsche Leser weit weg; die politische Wende 1989, als der Ostblock sich auflöste, scheint Geschichte, auch wenn die Stasi-Vergangenheit der DDR präsent bleibt. Warum soll ein Leser sich heute damit befassen?
Ilija Trojanow | Literatur handelt ja, außer sie ist Science- Fiction, fast nur von der Vergangenheit. Aber man weiß beim Lesen von Literatur tatsächlich nie genau, was einen ganz persönlich betrifft und was die Handlung und die Figuren mit dem eigenen Leben zu tun haben. Ein Beispiel: In jedem Betrieb gibt es Hierarchien. Wie verhalte ich mich, wenn es Anordnungen gibt, die mir unsinnig erscheinen, wenn Kollegen gedemütigt werden? Wann und wie kämpfe ich für meine Rechte und Pflichten als Angestellte, als Angestellter? Das sind Über­legungen, die ähnlich der Frage sind: Wie bewahrt man seine eigene Würde in einer Diktatur? Auch in einer Demokratie gibt es den Grundwiderspruch zwischen der Individualität des Menschen, der seinen eigenen Weg gehen will, und dem Druck der Gesellschaft, konform zu sein, Regeln einzuhalten oder zu Bedingungen zu arbeiten, die man nicht beeinflussen kann. Diesen Druck verspüren heute viele Menschen, denke ich.

DKM |Aber der «Böse», der ehemalige Stasi-Offizier Metodi (der oft gar nicht unsympathisch wirkt), der die schlimmsten Folterungen vornimmt, was hat das mit uns zu tun?
IT | Das Spannende an Literatur ist, dass wir mit ihr die Sicht eines anderen Menschen einnehmen können. Wir schauen im Alltag oft auf andere Menschen und denken: «Wie können die nur so oder so handeln? Das ist ja unglaublich.» So schauen wir auf je mand wie Metodi, der im Geheimdienst war, Menschen geschlagen und gefoltert hat, und fast jeder von uns würde sagen: Das ist ja ekelhaft! Aber aus seiner Sicht stellt sich das anders und komplizierter dar. Er hat ein ganzes Repertoire von Erklärungen, die meiner Ansicht nach nicht nur typisch für diese Figur des Metodi sind, sondern sich überall finden, besonders wenn Menschen in irgendeiner Weise in Behörden arbeiten, in Armeen, in Geheimdiensten – und sich ihre Tätigkeit zurechtlegen müssen. Sie sagen sich dann: Es ist eine notwendige soziale Aufgabe, denn diese nonkonformen Leute gefährden den sozialen Frieden, sie zerstören die öffentliche Ordnung. Die zweite Rechtfertigung ist: Wir halten uns immer an die Gesetze, und es ist nicht unsere Aufgabe, die Gesetze zu hinterfragen. Das Dritte, was sich am fatalsten auswirkt, ist, dass man seine persönlichen Ambitionen, erfolgreich zu sein, gleichsetzt mit dem, was auch für die Gesellschaft gut sei. Man hält sich dann für besonders geeignet, eine bestimmte Position auszufüllen, und macht es deshalb gewissenhafter als die anderen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM … was Voraussetzung einer Karriere ist. Am Fall des Metodi schildern Sie, was geschieht, wenn der eigene innere Maßstab für das, was richtig ist, dabei verloren geht. Umso rätselhafter ist, dass Konstantin Widerstand leistet, auch während der jahrelangen Lagerhaft. Wie ist das zu erklären?
IT | Ich glaube, die grundsätzliche Haltung Konstantins ist ganz einfach, und die teilen viele Menschen: Ich ertrage Ungerechtigkeiten nicht, und ich will frei leben, leben, wie ich will. Diese Überzeugung oder dieses Ideal eines menschlichen Lebens könnte man als eine Art geistige Währung bezeichnen, von der wir fast alle ausgehen. Aber wir leben mit dieser Einstellung zunächst wie auf Pump, das heißt, wir nehmen einen Kredit auf, denn wir haben das, was aus dieser Haltung eingefordert wird, noch nicht verdient – und fühlen uns in unserem normalen Alltag meist nicht herausgefordert, es einzulösen. Mysteriös ist und bleibt, wenn jemand sein ganzes Leben an seinen Idealen ausrichtet, immer wieder dafür kämpft, obwohl es nur Nachteile für ihn hat.

DKM | Es ist für Konstantin ein mühseliger Weg. Einmal hat er panische Angst, sein Gewissen, das heißt für ihn seine Menschlichkeit, durch einen Verrat zu verlieren. Aber er ist wahrhaftig sich selbst gegenüber, auch in der Extremsituation der Lagerhaft. Nach der Wende betreibt er unnachgiebig die Erforschung der Wahrheit, fordert die Herausgabe der Stasi-Akten, entdeckt Verrat. Er ist selbstkritisch, doch isoliert und allein. Andere waren nicht so stark wie er – aber hatten sie denn eine Wahl?
IT | Wir haben immer eine Wahl! Selbst in Isolationsfolter, das erzählt der Roman, das zeigen reale Schicksale. Aber Konstantins alte Weggefährten, die schwach wurden, fordern nun nach der Aufdeckung ihres Verrats Nachsichtigkeit von ihm ein und sagen: Kannst du denn nicht mal vergessen? Wir konnten damals nicht anders, das musst du doch begreifen. – Doch nicht eine bestimmte Wahrheit oder die persönliche Stärke oder Schwäche in einem Augenblick ist letztlich das Entscheidende: Selbst wenn man keine Möglichkeit sieht, großen Widerstand zu leisten, kann man ein bisschen seine Menschlichkeit bewahren – auch in dem, wie man zu seiner Vergangenheit steht. Es ist dieses nachträgliche Rechtfertigen, das Konstantin nicht akzeptieren will, und das Weiteragieren der alten Funktionsträger in Führungspositionen. «Du kannst doch nicht erwarten, dass jeder Mensch ein Held ist.» – «Nein, das erwarte ich nicht, aber dass er wenigstens kein Schuft ist», entgegnet Konstantin Dora, seiner Nachbarin. Konstantin wird sogar erneut zum Beschuldigten, denn er bemerkt: Sie werfen mir vor, ich würde nicht lieben! Aber Liebe ist doch kein Wert, denn jeder liebt irgendjemand, auch der Folterknecht hat seine Liebste zu Hause, auch der Offizier hat seine Kinder, die er abends liebevoll begrüßt. ? Hier tut sich ein unglaublicher Abgrund zwischen Konstantin und seinen Mitmenschen auf, der oft nicht überbrückbar ist und zu seiner Vereinsamung führt.

DKM | Aber trotz seiner schonungslosen Charakterisierung der Liebe («Was ist die Liebe außer Streben nach emotionalem Komfort?») nähert sich Dora ihm an, jenseits von Mitleid, das er nicht will, und ohne emotionalen Anspruch. Sie hat echtes Interesse an dem, was er erlebt hat und was er sagt. Einmal äußert Konstatin: «‹Wer die schwerste Strafe ertragen kann, ist ein freier Mensch.› ‹So habe sie es noch nie betrachtet›, sagt Dora. Sie lässt Minuten vergehen. Nachdenken ist für sie eine Tätigkeit.» Nachdenken als Tätigkeit, wie kann man sich das vorstellen?
IT | Die Fähigkeit nachzudenken wird in unserer Gesellschaft nach meinem Eindruck primär Intellektuellen zugeschrieben, vermutlich weil sie sich durch ein bestimmtes Vokabular hervortun und gut reden können. Dora ist sehr beharrlich und will verstehen, aber sie ist keine Intellektuelle; sie ist eine Krankenschwester, die davon träumt, dass eine bessere Krankenversorgung möglich wäre. ? Nachdenken in dem obigen Sinn als Tätigkeit bedeutet zunächst, dass ich einige Schritte zurück­trete von dem, was mir spontan aufgrund der bisherigen Lebensprägung und des angelesenen Wissens glaubwürdig und plausibel erscheint. Es ist ein Prozess des Sich-Öffnens und Infragestellens. Dora tut es: Sie hört Konstantin zu, ohne sofort zu antworten, zieht sich zurück, verarbeitet es einige Tage, prüft nach, recherchiert seine Zitate von Berühmtheiten ? und kommt dann einige Tage später mit der nächsten Frage oder mit einer Aussage, bei der man sieht: Sie ist nicht stehengeblieben, sondern hat sich in der Zwischenzeit damit auseinandergesetzt, mental fortbewegt. So wie Konstantin über die Versuche, seine Vergangenheit aufzuarbeiten, auch einen Prozess durchlebt, der ihn freier für das Jetzt macht, ohne sich zu verraten, so bewegt sich Dora, in anderer Art, auch auf ihn zu.

DKM | Der letzte Satz des Buches, gesprochen von Konstantin, lautet: «Es hat sich gelohnt.» Aber viele Fragen bleiben, wie seine Frage: «Was war am Anfang – die Freiheit oder das Handeln?», die ich an Sie weitergebe.
IT | Ich weiß auch keine einfache Antwort darauf, aber ich weiß, dass es extrem wichtig ist, dass wir über solche Fragen nachdenken. Und weil wir uns in den Abläufen unseres Alltags oft verfangen, kann ein Roman, kann die Literatur uns manchmal so in die notwendige Unruhe versetzen, dass wir innehalten, auf­blicken und denken: Vielleicht ist es doch nicht so klar, so fest, wie ich bisher dachte … Vielleicht ist es ein Gewinn, die stabile Weltsicht, die man oft nur weiter bestätigt haben will, zu hinterfragen? – Viele Leute meinen, selbst zu denken statt Meinungen zu übernehmen sei nur anstrengend, doch es ist wie bei fast allen Dingen eine Sache der Übung: Wenn man beispielsweise lange keinen Sport gemacht hat, ist es zunächst schwer, sich zu motivieren, und man bekommt danach Muskelkater. Aber wenn man regelmäßig trainiert, stellt sich allmählich eine Natürlichkeit der Bewegungen ein, der Körper verlangt es. So ist es auch mit dem Denken, das dazu führt, dass ich mit mir selbst und durch mich selbst einen neuen Schritt machen kann. Nachdenken ist eine der schönsten und beglückendsten Tätigkeiten, die es gibt, weil es einen lebendig werden lässt!