Christian Hillengaß

Willkommen in der Fremde

Nr 193 | Januar 2016

«You are in (72108) Rottenburg-Ergenzingen near Stuttgart (60 km)». Ein kleiner Anhaltspunkt auf einem Plakat an einer Wand in einer ehemaligen Fabrikhalle, irgendwo in Germany. Irgendwo zwischen weiten Feldern in einem Gewerbe­gebiet unweit der Autobahn, über die die Busse angerollt sind, mit denen sie hergebracht wurden. Nach langer Fahrt von der Grenze in Bayern, ohne eine Rast, sodass manche von ihnen hier mit nassen Hosenbeinen aussteigen.
Wie die, die hier ankommen, wenig bis nichts über die Gegend wissen, in der sie gelandet sind, wissen die, die hier leben, wenig bis nichts über die Gegenden, aus denen die Menschen aus den Bussen kommen. Fremde treffen auf Fremde. Trotzdem ist Hilfe da. Und diese Hilfe hat nicht lange nach dem Warum gefragt, sondern gleich nach dem Wie: «Wie schaffen wir es, innerhalb von ein paar Stunden eine Unterkunft für 560 Menschen aufzubauen?» Das war die Frage, die Bruno Gross vom Deutschen Roten Kreuz Tübingen um- und antrieb, als er vom Krisenstab des Innenministeriums am 15. September 2015 gegen 15 Uhr über das Kommen der Flüchtlinge informiert wurde. Anschaulich erzählt er vom Ablauf dieses Countdowns, als ungefähr 200 rasch mobilisierte Helfer vom Deutschen Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, den Johannitern und dem Bundesgrenzschutz anpackten, um aus dem Nichts, be­ziehungsweise einer leer stehenden Fabrikhalle, eine Unterkunft mit Schlafplätzen, medizinischer Versorgung, Küche und sanitären Anlagen aufzubauen. Kurz bevor am Abend die ersten 450 Flüchtlinge eintrafen, war es tatsächlich geschafft.

Immer noch ist Gross merklich angetan vom Engagement der meist ehrenamtlichen Helfer. Noch nie, sagt der erfahrene Rotkreuzler, habe er so viele Leute gesehen, die so eine große Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Menschen, die Hygieneartikel, Kleidung und Geld gespendet haben, die Fahrdienste oder Übersetzungen anboten, Essen kochten, eine Wäscherei aufbauten, Kleidung wuschen und sortierten oder einfach nur für Fragen da waren wie: «Wo bin ich hier?» – «Gibt es einen Arzt?» – «Wo kann ich eine deutsche SIM-Karte bekommen?»
Mittlerweile ist in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flücht­linge in Ergenzingen Routine eingekehrt, aber die Hilfsbereitschaft hält an. Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, aus dem Iran und dem Irak und anderen Teilen der Welt werden unter dem Dach der großen Halle beherbergt. Die Betten reihen sich eng aneinander, Bauzäune mit Planen unterteilen den Raum. Für manche Familien ergibt sich so ein sichtgeschützter Bereich – von Privatsphäre zu reden wäre übertrieben, die gibt es hier nicht. Ein Dach über dem Kopf, Essen und vor allem Sicherheit für Leib und Leben sind aber ohnehin erst einmal das Wichtigste. – «Die Menschen sind oft in dreifacher Hinsicht traumatisiert», sagt Gross, «zum einen durch die Geschehnisse in ihrem Heimatland, die sie zur Flucht brachten. Dann durch die Erlebnisse auf der Flucht. Und zum Dritten durch den Verlust der Heimat, durch die Tatsache, aus der alten sozialen Rolle, aus ihrem Beruf, ihren Lebensgewohnheiten heraus­­gefallen zu sein und jetzt wie Obdachlose dazustehen.» Obwohl mittlerweile beinahe 600 Men­schen hier untergebracht sind, ist es in der Halle an diesem Nachmittag nicht besonders laut.
Gedämpftes Stimmengemurmel, hin und wieder scheppert ein Funkgerät des Sicherheitsdienstes. In einer Ecke klackert ein Tisch­kicker, dann und wann ein Lachen, wenn ein Tor gefallen ist. Kinder fahren mit Dreirädern die Gänge entlang, die Luft ist schlecht und macht müde. Junge Männer dösen auf ihren Betten oder bereiten sich auf den Deutsch­unterricht vor, andere sitzen vor einer Steckdosenleiste und warten, dass ihre Mobil­telefone geladen sind.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Warten ist hier Hauptbeschäftigung. Aber das Warten tut nicht gut, sagen sie. «Wir wollen arbeiten. Warten ist ein schlechter Beruf.» – Draußen auf dem Hof fliegt ein Fußball senkrecht in die Luft, ein paar Männer recken den Nacken zurück und warten, auf welchem Fuß er wieder landen wird. An der Autowaschstraße nebenan strahlt ein Hochdruckreiniger über einen Mercedes, ein Laub­bläser dröhnt, Blätter und Plastikbecher wirbeln über den Asphalt. Aziz Almohamad Aldarwish sitzt auf einer Bierbank vor der Halle, den Rücken aufrecht an die Wand gelehnt. Ein großer Mann mit intelligentem Blick und schlanken Händen, die er lebendig, aber unaufdringlich mit seinen Worten mitsprechen lässt. In fließendem Englisch erzählt er von Ar-Raqqa, der Stadt am Euphrat im Nordosten Syriens, aus der er kommt. Im Sommer 2013 wurde sie von den Truppen des sogenannten «Islamischen Staats» eingenommen. Seitdem gilt Raqqa als die Hauptstadt der Verbote, als die Hochburg des IS. Das habe er bald zu spüren bekommen, seine Tätigkeit als Englischlehrer wurde von den Besatzern mehr und mehr behindert. Erst verlangten sie, Mädchen und Jungen getrennt zu unterrichten. Dafür fehlten jedoch sämtliche Kapazitäten. Dass Aziz dieses Problem ansprach, brachte ihm den gefährlichen Stempel des Ungläubigen ein. Ein zweites Mal fiel er auf, als der Unterricht vollständig untersagt werden sollte. Weltlicher Unterricht sei unnötig, habe die Ansage gelautet, es gehe allein darum, die Kinder zum Paradies zu führen. «Ja», erzählt Aziz, «ja», habe er ihnen gesagt, «lasst uns die Kinder ins Paradies führen, aber lassen wir sie vorher noch etwas lernen. Lasst sie vor dem Paradies noch zur Universität gehen!»
Ein Lächeln huscht ihm beim Erzählen übers Gesicht, hier, weit weg von der Gefahr. In Raqqa wurden er und seine Kollegen in eine Moschee gebracht. Umstellt von Schwerbewaffneten sei ihnen dort das Unterrichtsverbot erteilt worden. Innerlich gekocht habe er vor Wut, die Kollegen mussten ihn beruhigen – zu groß die Gefahr, besser ruhig bleiben. Das, womit er rechnen musste, wenn er weiter als «Ungläubiger» auffiel, das habe er in den Straßen von Ar-Raqqa deutlich vor Augen geführt bekommen: die zur Strafe Verstümmelten und die Leichen derer, die in Ungnade gefallen waren, hingerichtet und zur Ab­schreckung liegen gelassen, von Hunden gefleddert. Sein Vater habe ihn schließlich beiseite genommen und ihm zur Flucht geraten. Der Vater war es auch, der das Geld aufbrachte, aus seinem Besitz und dem Geld von Freunden und Ver­wandten, die er darum bat.

Zwölf Tage hat Aziz’ Flucht gedauert, in zwölf Tagen aus der Hauptstadt des IS nach Ergenzingen. Über die Länder, die hier viele der Reihe nach aufzählen, wenn man sie nach ihrer Flucht fragt: Türkei, Griechenland, Mazedonien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Österreich.
«Für Syrer», sagt Aziz, «ist Deutschland zuallererst eine Verheißung von Frieden, ein Ort der Sicherheit. Dann eine Möglichkeit, Wissen zu erwerben und zu arbeiten.» Syrer seien – für alle ließe sich das natürlich nie behaupten – friedvoll, ihre alte, reiche Kultur bewahre sie davor, dem IS zu folgen. Syrien mit seiner alten Kultur, das Zweistromland, die Wiege der Menschheit. Sollten sich die Verhältnisse dort ändern, will er wieder zurück. Zur Familie, zu den Freunden, zu seinen Schülern und seinem Gemüsegarten. Auf dem Handy zeigt er Bilder von seinen drei kleinen Söhnen. Hin und wieder hat er Kontakt zu ihnen, wenn das Netz in Raqqa funktioniert. Er wiegt das Gerät in der Hand. Wichtig, sehr wichtig sei so ein Smartphone für Leute wie ihn. Mit den Fingern zählt er Gründe auf: Für den Kontakt mit zu Hause. Für die Organisation der Flucht, zur Orientierung auf der Strecke und für den Informationsaustausch mit anderen, die ebenfalls unterwegs sind. So manchen hat das Mobiltelefon auf hoher See durch das Senden eines Hilfe­rufs mit genauen GPS-Angaben vor dem Ertrinken bewahrt. Das Gerät ist Lebensretter, Kompass, Tagebuch und Familienalbum. Speicher für wichtige Dokumente und Nach­richten­quelle. Außerdem nutzen viele es für Übersetzungen.
Eine Frau kommt mit dynamischen Schritten über den Hof und reicht Aziz die Hand. Er erwidert den Händedruck mit einem Lächeln. Alexandra Wirtz ist von hier, ein echtes «Ergenzinger Mädel», wie sie sagt. Sie unterrichtet täglich bis 16 Uhr an einer Grundschule und kommt anschließend ins «Camp», um den Flüchtlingen Deutsch beizubringen. Seit den Anfängen ist sie dabei, als für den Unterricht nur ein Zelt zur Verfügung stand. Für die zwanzig Personen, mit denen sie angefangen hat, reichte das gerade so aus. Aber es kamen immer mehr, die lernen wollten. Schon eine Stunde vor Unterrichtsbeginn standen sie da, um noch einen Platz zu bekommen.

Mittlerweile ist die Zahl der Schüler auf 120 gewachsen, und es sind weitere Lehrer hinzugekommen. Statt dem Zelt können nun die Klassenräume einer benachbarten Schule genutzt werden.
Die Klasse von Alexandra Wirtz füllt sich. Bald sitzen siebzig Personen in den Reihen – die Altersspanne reicht von fünf bis über sechzig Jahre. Mit ganzer Aufmerksamkeit folgen sie dem Unterricht und machen sich Notizen. Siebzig hoch konzentrierte Menschen, ein erstaunliches Bild, wenn man die Atmo­s­phäre deutscher Klassenzimmer oder Uniseminare kennt. Wirtz geht das Alphabet durch, jedem Buchstaben ordnet sie ein Ding zu. Alle sprechen nach, laut und begeistert: A – Ampel, B – Banane. M – Mmmmaus. Das CH, das Wirtz mit dem Fauchen einer Katze veranschaulicht, ist der Renner. Chhhhhh. Chhhhhh. Chhhhhh.Vielstimmiges Lachen erfüllt den Raum.
«Die wollen», resümiert Alexandra Wirtz den Unterricht. Und sie will auch. Immer wieder hat sie erlebt, wie die anfänglich misstrauische Stimmung bei vielen Bürgern in Ergenzingen umschlug, wenn Flüchtlinge ihnen ein «Hallo» oder «Guten Tag» entgegenbrachten. «Das Eis bricht relativ schnell, wenn Sprache da ist. Das ist meine Antriebsfeder.» Aber auch sie war anfangs skeptisch. Wie würden vor allem die vielen jungen Männer sich ihr gegenüber verhalten? Das sei allerdings überhaupt kein Thema, die seien sehr respektvoll. Überhaupt: die große Dankbarkeit, die da auf sie zukommt, die großen Bemühungen der Menschen, voranzukommen, ihre Offenheit und Freundlichkeit, trotz all dem, was ihnen widerfahren ist. Das zu erleben sei ihr enorm wertvoll. Das alles sei so ganz anders als das mulmige Gefühl, das sie zuvor aus den Medien kannte. Die beängstigenden Bilder aus der Distanz haben sich hier vor Ort in Luft aufgelöst. «Die Wirklichkeit ist ganz anders», sagt sie. «Aber wenn man nicht da war, spürt man es nicht.»