Dichtung und des Lebens Kraft

Nr 195 | März 2016

Liebe Leserin, lieber Leser!
Manche halten das Johannesevangelium für Dichtung. Es sind wohl die Gutmeinenden unter den Skeptikern, die den Erzählungen des vierten Evangelisten keine historische Faktizität zubilligen können, aber in ihnen mehr Schönheit und erhabene Gesinnung erleben als in einem sonstigen theologischen Traktat.
Wenige Jahre vor seinem siebzigsten Geburtstag stellt der vielseitige Schriftsteller und langjährige Leiter der argentinischen Nationalbibliothek, Jorge Luis Borges, fest: «Und das Leben besteht, da bin ich sicher, aus Dichtung.» Er habe, schildert er zu Beginn seiner sechs Vorträge, die er an der Harvard Universität im Herbst/Winter 1967/68 über Das Handwerk des Dichters hielt, sein Leben damit verbracht, «zu lesen, zu analysieren, zu schreiben … und zu genießen.» Und er gesteht: «Ich fand, dass Letzteres das Wichtigste von allem war.» In Büchern allerdings, meinte der phantastische Erzähler, profunde Literaturkenner und Dichter wie auch legendäre Bibliothekar, sei Dichtung nicht enthalten: «Bücher sind nur Anlässe für Dichtung.» Erst der lesende Mensch lasse Dichtung entstehen und Wirklichkeit werden.
Ein anderer, der die Kraft der Dichtung im Leben empfand, ist der am 30. März 1925 gestorbene österreichische Philosoph und Anthroposoph Rudolf Steiner. Auf das Jahr 1912/13 dichtet er 52 Sprüche für die Wochen des Jahres. In seinem Seelenkalender beginnt das Jahr mit Ostersonntag. So ist der erste Spruch der Osterwoche zugeordnet, der mit Ostersonntag beginnt, der 52. Spruch kann somit der Voroster- oder Karwoche, die mit Palmsonntag beginnt, zugeordnet werden. Wie bejahend, belebend und kraftspendend ist dieser Wochenspruch über die Inkarnation des göttlichen, johanneischen Wortes im Menschen!

Wenn aus den Seelentiefen
Der Geist sich wendet zu dem Weltensein
Und Schönheit quillt aus Raumesweiten,
Dann zieht aus Himmelsfernen
Des Lebens Kraft in Menschenleiber
Und einet, machtvoll wirkend,
Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.

Erstaunlich ist diese Stimmung für die Vorosterzeit. Sie kann vielleicht in Zeiten grassierender Lebens­erschöpfung eine ganz neue Perspektive für uns Menschen eröffnen.

Mit frohem Vor-Oster-Gruß!
Ihr
Jean-Claude Lin