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Richard Steel

Pilgerfahrt zur Sprache

Nr 195 | März 2016

Wenn ich in Upstate New York nach einem Wort suche, kommt manchmal ein mitleidiges: «You don’t speak so much English yet!» Dabei wurde ich in Oxford geboren – dem echten! Allerdings nicht in der Stadt – sie besteht nur aus Universitäten. Ich komme richtig vom Lande, aus den vergessenen, verträumten Hügeln der Cotswolds. Unser Haus war das letzte in der Straße, das eine Stromversorgung erhielt, weil unsere Nachbarin sagte, Elektrizität sei des Teufels und dürfe nicht über ihrem Land und Eigentum verlegt werden. Schulfrei gab’s zum Heuen und für die Kartoffelernte, und wir Kinder kannten nur dieses Tal, das kaum einer mal verließ. Schule war ein notwendiges Übel, und ich nutzte jede Gelegenheit, um lieber – wie Shakespeare es mich gelehrt hatte – vom Leben zu lernen. So jobbte ich beim Metzger, in der Molkerei, Ziegelei und Schmiede ... Landwirtschaft war keine Arbeit, sie war Teil des Lebens.
Vieles durfte ich lernen, aber nichts ganz! Marxistische und Hippie-Phasen wechselten sich ab, wie das in den 60ern so üblich war: Übersinnliches, Buddhismus, Gerechtigkeit, Weltfrieden, Naturschutz – es ging um die großen Themen. Nur nichts verdienen, keine äußere Sicherheit erlangen, keine Verantwortung für andere übernehmen, das waren die Lebensdevisen. Sprachwissenschaften studierte ich, aber meine Frage nach dem Ursprung der Sprache fand niemand interessant – und ich fand Chinesisch vom Tonband zu lernen auch nicht prickelnd. Das Interesse für deutsche Literatur führte mich nach Berlin und in das Haus von Rudi Dutschke; mein Russisch führte mich zu Solowjew; meine Liebe für Französisch bescherte mir eine Freundin, aber in Nancy wollten sie nicht, dass ich Philosophie studiere. Wer also hilft mir weiter? Wer hebt diesen schmerzhaften Gegensatz von Spiritualität und Sozialismus für mich auf?
Ich hatte mit Anfang Zwanzig ein lilafarbenes Heft, The Cresset. Journal of the Camphill Movement, gefunden, das mir wieder in den Sinn kam: der Mann, so dachte ich, der kann mir helfen. Aber der Verfasser, Karl König, war schon 1966 gestorben und konnte mir persönlich keine Fragen mehr beantworten.
Auf verworrenen Wegen geriet ich also – als erste Etappe eines Pilgerweges gen Tibet – nach Föhrenbühl, einer Camphill-Gemeinschaft am Bodensee. Und plötzlich kam alles zusammen: Anthroposophie ist das Ziel – und zugleich die Pilgerfahrt. Nach sieben Jahren Heilpädagogik, mit Camphill-Seminar und Aufbau der Werkoberstufe, merkte ich, dass ich Lehrer bin! Diese Erkenntnis war zwar etwas seltsam, aber zumindest eine Aufgabe. Jugenderziehung kam hinzu, dann auch Kurse und Theater für junge Mitarbeiter, später Hilfe für Menschen, die den Weg aus der Sucht suchten. Aus den geplanten zwei Monaten wurden über 36 sehr besondere Jahre des Lernens, der Gemeinschaftsbildung, der Zukunftshoffnung, der tiefen Beziehung zu Georg von Arnim. Und eines Tages, plötzlich und unerwartet, war etwas anderes gefragt: Der Aufbau des Karl König Archivs, die Gestaltung einer neuen Werkausgabe, die Gründung des Karl König Instituts. Berlin hatte mich wieder – mit Frau und drei Kindern.
7 Jahre und 35 Bücher später ist die Frage an die Sprache immer noch da: Wie gelangt man hinter die Sprache? Wie können wir eine gemeinsame Sprache finden? Gewiss hatte Karl König mich zu diesem Weg geführt, auf dem auch Kaspar Hauser war, zu dessen 200. Geburtstag ich meinen ersten von zwei (bald drei) Gedichtbänden schrieb. Unendlich dankbar bin ich, dass ich diesen Weg mit so vielen besonderen Menschen teilen darf. Wie jetzt auch wieder an einem anderen Ort – im Norden von Upstate New York: bei Camphill Ghent, Elders in Community lebe und arbeite ich für und mit älteren Menschen. Total inklusiv – und spannend!