Renate Heitmann & Peter Lüchinger im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Shakespeare – der Global Player in Bremen

Nr 196 | April 2016

Die Bremer haben ein Privileg: Sie können sich mehrmals im Jahr im Theater am Leibnizplatz die «Bremer Shakespeare Company» (BSC) anschauen, die derzeit 13 Stücke von Shakespeare im Repertoire präsentieren kann. William Shakespeare, der am 23. April 1616 starb, gilt als meistgespielter Dramatiker weltweit. Aus der Faszination für seine Theaterstücke entwickelte sich ab 1985 die «Shakespeare Company», ein Theaterexperiment in Selbstverwaltung, das immer wieder die eigens übersetzten Stücke von Shakespeare auf die Bühne bringt. Shakespeares Theater war zu seiner Zeit ein Volkstheater für alle Schichten, das Unterhaltung mit Spannung und Humor bot. Daran knüpft die «Shakespeare Company» auf eigene, zeitgemäße Weise an: Wie im Original werden ohne moralischen Zeigefinger Shakespeares Stücke rund um Gefühle und Macht als ein Spiel präsentiert, das aktuell geblieben ist und Zuschauer aller Altersgruppen bewegt. Ein Gespräch mit zwei Mitgliedern der BSC.

Doris Kleinau-Metzler | Warum wird ein Theater gegründet, das fast ausschließlich Stücke von Shakespeare inszeniert?
Renate Heitmann |Als Geschäftsführendes Vorstandsmitglied (und Anglistin) begleite ich seit 25 Jahren den spannenden Prozess des Theatermachens mit Shakespeare; auch als Zuschauerin erlebe ich immer wieder, wie Shakespeare mich jedes Mal neu berührt: Er spricht von Herz zu Herz. Bei seinen Stücken geht es immer um das direkte Gefühl – um Liebe, Eifersucht, Angst, Hass, Macht und Einsamkeit. Das sind ja keine Themen des 16. oder 18. Jahrhunderts, sondern das sind unsere Gefühle und Erfahrungen – auch wenn der Umgang damit heute anders aussieht. Wie fühlt sich so ein junges Mädchen wie Miranda in Der Sturm, das allein ist (ausgesetzt mit seinem Vater) und auf einer Insel mit dem Inselbewohner Caliban konfrontiert wird? Da tauchen doch Grund­gefühle auf, vielleicht Angst, Orientierungslosigkeit, die man selbst aus bestimmten Lebensphasen kennt. Gefühlskonstellationen und Schichten, die auch Bob Dylan in seinem Tempest-Album und Songs aufgegriffen hat und nachzuempfinden versucht.
Peter Lüchinger | Shakespeares Stücke bieten uns nicht nur immer wieder neue Ansätze, seine unterschiedlichen Stücke inhaltlich zu erkunden, sondern er hat letztlich auch zu unserer Arbeitsform, der Selbstverwaltung, beigetragen. Einfach gesagt: Die Bremer Shakespeare Company hat sich als eine Art interpre­tierende Schauspielgruppe aus der Begeisterung für Shakespeare entwickelt, denn: Shakespeare hat die Stücke – die im Wesent­lichen erst nach seinem Tod aufgeschrieben und veröffentlicht wurden – nicht nur allein am Schreibtisch fertig geschrieben, sondern sie wurden von ihm während der Theaterinszenierung gemeinsam mit den Schauspielern weiterentwickelt.

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DKM | Was bedeutet Ihnen als Schauspieler Shakespeare?
PL | Das eine ist, dass man es als Schauspieler bei Shakespeare mit einer Sprache zu tun hat, die einfach wahnsinnig viel ausdrücken kann, mit wenigen Worten, aber dennoch sehr präzise ist – was wir heute anders handhaben: wir reden mit vielen Worten, sagen aber trotzdem wenig. Das andere ist, dass ich schon auf der Schauspielschule Shakespeare als einen Autor kennen­gelernt habe, aus dem man immer mehr hervorschöpfen kann, als man zunächst denkt. Bei der Arbeit an Macbeth oder König Lear habe ich gestaunt, wie neu mir der Text erschien, obwohl ich ihn kannte und die Rollen früher gespielt habe. Diese eine Figur, die ich spiele (die ja ein Zusammenschluss verschiedener Facetten eines Menschenbildes ist), lässt jeweils unendlich viel zu. So kann ich mit Shakespeare viel mehr erleben, als ich in meinem kleinen Leben erlebe. Es ist wie ein Geschenk. Wenn ich das auf der Bühne darstellen will, muss ich mich aktiv mit der Rolle auseinandersetzen, und es ist dann, als ob ich einen größeren Raum in mir entdecke, der in meiner Alltagswelt nicht sichtbar ist. Den muss ich erst in mir freimachen, um ihn dann füllen zu können. Am Anfang meiner Schauspielerkarriere habe ich gesagt: «Ich bin Romeo.» Jetzt erlebe ich: «Ich bin Romeo.»

DKM Was ist für Sie zentral, worum geht es Shakespeare?
PL | Er will unterhalten, Vergnügen bereiten; zu seiner Zeit waren Theater sehr populär – bis zu 3.000 Besucher pro Vor­stellung, Lehrlinge, Handwerker und Adlige. Zugleich bietet er eine große Handlungs- und Personenvielfalt, die modellhaft Aspekte des menschlichen Lebens aufgreift und vertieft. Er traut den Menschen alles zu, Schlechtes wie Gutes, und bewertet oder verurteilt das nicht moralisch. Der Mörder kann auch ein sympathischer Mensch sein … Wir wollen immer schnell nach einem Schema von gut/schlecht beurteilen. Aber ist das Leben so? Shakespeare ist radikal, und er sucht nicht den Konsens für die Zuschauer. Auch wenn beispielsweise der Sommernachtstraum als Komödie gilt, geht es darin sehr dramatisch und brutal zu: In den ersten Minuten erscheint eine Amazonenkönigin, die durch das Schwert des Königs besiegt, also gewaltsam unterworfen wurde. Dann kommt ein Vater auf die Bühne und verlangt vom König: «Meine Tochter soll getötet werden, wenn sie nicht den heiratet, den ich will.» Ist das lustig? Eher Themen, die auch heute aktuell sind. Die Tochter (radikal wie junge Menschen sein können) will sich lieber umbringen, statt der Autorität zu gehorchen. Letztlich sind es die zunächst zerstrittenen Götter, die nach allerhand
Verwirrung stiftender Zauberei erkennen: «Wenn wir nicht in Einklang sind, bricht die Welt auseinander.» Am Ende des Sommer­nachts­traums sagt Droll, eine Figur aus der Feen- und Götterwelt: «Wir haben nichts mehr gemacht, als euch etwas vorgegaukelt. Nehmt es, wie es ist, und wenn nicht, dann geht.» Es ist ein Spiel, aber mit Hintersinn.

DKM | Wie arbeiten Sie an den Texten aus dem 16. Jahrhundert?
RH | Zum Gründungsimpuls der Shakespeare Company gehört, dass in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts die meisten deutschen Shakespeare-Texte von romantischen Übersetzern des 18. und 19. Jahrhunderts stammten (Schlegel, Tieck, Baudissin) und entsprechend zensiert waren: Das Derbe und alles, womit Tabus verletzt werden könnten, kam dabei nicht vor – aber es gehört unbedingt zu Shakespeare, denn es ist sowohl ein inhaltliches als auch ein dramaturgisches Element. Egoismus, Gewalt und Fanatismus sind doch Teil unserer Realität. Deshalb ist die Übersetzung für unsere Inszenierungen grundlegend, und der jeweilige aktuelle Zeitgeist spiegelt sich auch in den Inszenierungen – 1993, beim ersten Sommernachtstraum hier, hat man anders als heute auf Zweierbeziehungen geschaut und gab es andere gesellschaftliche Konflikte und Kontroversen als 2012, bei der neuen Inszenierung, die derzeit noch gespielt wird.
PL | Worüber man im 16. Jahrhundert lachte, das ist heute nicht immer nachvollziehbar. Wir haben das Privileg, dass wir in deutscher Übersetzung spielen können und Sie als Zuschauerin alles verstehen können. Das Altenglisch aus Shakespeares Zeiten ist heute auch in England oft nicht mehr verständlich – doch Shakespeares Stücke gelten fast als «heilig», sodass unsere englischen Kollegen sehr eingeschränkt sind. Natürlich wird das atemberaubend gut dargeboten, da stört nichts den Fluss der Worte, alles ist bekannt. Wir dagegen können immer zuerst überlegen – wie aktuell ist die Übersetzung, wie zeigen wir das, was heute weiter wirkt, und nähern uns spielerisch im Sinne des Gesamten dem Stück an?
Zu unserer Arbeit mit Shakespeare gehört auch, dass es öffentliche Proben gibt. Dann sagen manche Leute erstaunt: «Das ist aber anstrengend, was ihr die ganzen Tage macht …» Sie merken, wie ein einfacher Satz viele Facetten haben kann und wir daran arbeiten, um den ganzen Raum des Stückes zu erschließen. Shakespeare ist Aktion, er kann nur im Theater lebendig werden! Ich kann verstehen, wenn sich Schüler langweilen, weil sie Shakespeare für die Schule lesen sollen. Zumindest szenisch sollte man Shakespeare lesen, denn man muss ihn hören. Durch das Live-Theater wird er noch lebendiger und man kann stärker vom Spielfluss erfasst werden.

DKM | Wirken seine Geschichten nicht altmodisch für heutige Zuschauer?
RH | Nein, Shakespeare verbindet alles – die hohe Literatur im Versmaß und das Volksnahe, Unterhaltsame. Je näher man ihm kommt, umso mehr erkennt man, dass er kein Klischee erfüllt, das man vielleicht vorher in ihm sah – historisch, moralinsauer, sondern dass er Konstellationen von Problemen geschaffen hat, die für uns heute gut zu interpretieren sind und durch eine neue Inszenierung einen frischen Anstrich bekommen. – Und das alles funktioniert eben nicht, weil uns da wieder jemand die Welt erklärt, sondern darüber, wie alles mit den Mitteln des Theaters dargestellt wird. Shakespeare hat es verarbeitet, hat eigene ästhetische Formen und Figuren erfunden, die dadurch mehr sind als eine Scheinwelt oder nur abgebildete Realität. Sein Spiel ist intuitiv verständlich und bewegt uns innerlich, jeden vielleicht an einer anderen Stelle. Ich kann sein Theater als Einladung nutzen, als Anstoß, mich selbst genauer anzuschauen, über mich zu reflektieren.

DKM | Gibt es besondere Aktionen Ihres Theaters zum 400. Todestag von Shakespeare am 23. April, um ihn noch mehr oder wieder in unserer Zeit präsent zu haben?
RH | In Kooperation mit dem Shakespeare Globe Theatre in London arbeiten wir im April wieder mit dem Regisseur Raz Shaw an unserer Eigenproduktion Wie es Will gefällt (im Englischen: All’s Will that Ends will), die wir anlässlich seines 450. Geburtstages uraufgeführt haben, danach wird es innerhalb von vier Tagen vier verschiedene Shakespeare-Stücke geben. Und aus dem Weltraum werden am 23. April von den Astronauten der ISS Wünsche und Fragen an und zu Shakespeare verlesen, die die Shakespeare Theatre Association (STA) in Kalifornien gesammelt hat; auch wir wurden gebeten, Fragen zu stellen. So wird es die schönste, zukunftsweisende Trauerfeier, die man sich für Shakespeare nur denken kann – der doch noch so lebendig ist!