Kilian Hattstein-Blumenthal

Hamlets Geistesgegenwart

Nr 196 | April 2016

Zum 400. Todestag von William Shakespeare am 23. April

Hamlet spielt verrückt. Wenn wir von jemandem sagen, er spiele verrückt, meinen wir damit, dass er sich herausnimmt, anderen absichtlich auf die Nerven zu gehen.
William Shakespeare hat mit seinem Hamlet dem Theater eine der faszinierendsten Bühnenfiguren der Weltliteratur geschaffen. Den dänischen Prinzen, der seinen ermordeten Vater vier Akte lang eigentlich nicht rächen will, es im fünften aber dann dennoch tut. Der als Sonderling und gedankenverlorener Grübler mit dem Hang zu komplizierten Monologen kaum bühnentauglich und als pubertär die Welt hassendes Muttersöhnchen kaum erträglich erscheint. Der in einem Stück auftritt, das die Seele seines Protagonisten bis weit in die Moderne öffnet, obwohl es am Ende nichts als ein finsteres Rachedrama bietet. Wie kann das sein?
Weil Hamlet verrückt spielt! Weil er damit seiner Mutter, seinem Stiefvater, seiner Freundin «auf den Geist geht». Das nämlich ist genau Hamlets Problem: Sein toter Vater erschien ihm als Geist und forderte ihn auf, seine Ermordung zu rächen – von der bisher niemand etwas wusste. Der Geist seines Vaters zwingt Hamlet in eine extreme Situation: Wie verhalte ich mich sozial angesichts einer Forderung namens «Geist-Gegenwart»? Hamlet reagiert auf den väterlichen Auftrag aus dem Nachtodlichen maximal überfordert. Er ist Student an einer fortschritt­lichen Universität, hat mit Blutrache nichts am Hut. Er glaubt – Prototyp des wissenschaftlichen Menschen – nur, was er sieht. Und jetzt hat er einen Geist gesehen; noch dazu einen sehr speziellen, der sein Herz rührt.
Hamlet erfährt in seiner vollständigen jugendlichen Überforderung allerdings eine spontane Intuition. Er beschließt spontan, sich vor seiner Mitwelt unter der Maske des die Grenze zum Wahnsinn streifenden Melancholikers zu verbergen. Das allein schon wäre originell. Theatralisch genial wird es, weil er nicht nur seine engsten Freunde, unter mehrfachem Schwur ihrer Verschwiegenheit, einweiht, sondern damit natürlich die Zuschauer – uns! Wir Zuschauer gewinnen fortan als verschworene Komplizen des fälschlich für durchgeknallt Gehaltenen eine menschliche Nähe zu Hamlet, die so zu keiner Bühnenfigur vor ihm möglich war. Wir sind dem Erfinder des Monologisierens aus innerer Zer­rissenheit näher als er sich selbst. Wir kennen seine intimsten Gedanken, wissen, dass er sich als «Hans der Träumer, meiner Sache fremd» (2. Akt, 2. Szene) verspottet. Fühlen, wie er sich selbst hasst. Und wir sehen ihn seine Mitwelt auf der verzweifelten Suche nach Wahrheit durch die verblüffendsten Wort-Falltüren jagen. Hamlet wird uns in seiner immer hemmungsloseren Wahnsinns-Schauspielerei so sympathisch, wie er uns durch seine schonungslose Offenheit in den Mono­logen einfühlbar wird.
Die Empathie, die wir mit Hamlet entwickeln, verleiht dem Mitfühlen eine neue Dimension: es wird geistesgegenwärtig.

Dass sich dies auch in der Darstellung der Figur des Hamlet auf einer heutigen Bühne einlösen lässt, stellt der Schauspieler Lars Eidinger unter Beweis. Seit acht Jahren spielt er den Hamlet in der Inszenierung von Thomas Ostermaier, inzwischen über hundert Mal aufgeführt an der Berliner Schaubühne. Dazu kommen Gastspiele in über vierzig Städten weltweit. Der Hamlet des Lars Eidinger ist Berliner Kult, die Vorstellung stets nach wenigen Stunden ausverkauft.
Lars Eidinger nimmt die soziale Rebellion Hamlets durch Verrücktspielen ernst. Sein Hamlet darf in den Aufführungen alles: mit Zuschauern sprechen, Kollegen durch ab­weichende Vorgänge ärgern, plötzlich abgehen, über die eigene emotionale und geistige Verfassung ungeplant und ungebremst nachdenken. «Armer Hamlet, dein Wahnsinn ist dein Feind», sagte Eidinger in der Aufführung, die ich besuchte, als Essenz einer minuten­langen spontanen Meditation über die Figur. Seine Mitspieler auf der Bühne waren während­dessen zum öffentlichen Pausieren verurteilt; die Zuschauer dagegen hingen an Eidingers Lippen. Seinen Höhepunkt erreichte das, als der Schauspieler Eidinger die stückab­schließende Degengefechts-Szene verweigert. Er setzte sich ins Publikum und sagte: «Ich traue mich nicht. Ich kämpfe heute nicht. Geht alle nach Hause. Es ist vorbei.»
Die menschlich zutiefst nachvollziehbare Furcht der Figur vor dem Tod, dazu die Verweigerung des Schauspielers, einer vorgeschriebenen Handlungsanweisung zu gehorchen, erzeugt für den Zuschauer viel­gestaltige Spannung: Geht es jetzt wirklich nicht weiter? Hat Eidinger das Recht, gegen seinen Rollenauftrag, vielmehr aber: gegen meine Erwartungen zu handeln? Wie stehe ich zum Töten?
Bin ich fasziniert davon und will es deshalb sehen? Bin ich nicht selbst wie die Dimension Hamlets, die Eidinger hier mit letzter Konsequenz öffnet: abgestoßen vom Töten, aber einverstanden mit dem Racheauftrag seines Vaters? Ist das richtig von mir?
Reine Geistesgegenwart. Bravourös provoziert von Eidinger. Klar wird daran aber, dass das Wort «Geistesgegenwart» heute eine zu ausschließlich positive Verwendung erfährt. Denken wir dabei doch vornehmlich an bewundernswert vorausschauende soziale Rettungstaten oder ebenso bewundertes spiri­tuelles Erwachtsein. Dass Geist aber, wenn er mit Gegenwart in eins fällt, zuerst einmal ins Leid führt, wird dabei gerne beiseite gelassen.
Warum dem so ist, erfahren wir wieder durch Hamlet. Die prekäre neue Lage, in die er sich nach der Begegnung mit seines Vaters Geist bringt, wird ein treffendes Beispiel für Geistesgegenwart durch die quälende Überwachheit, in der Hamlets eigener Geist fortan lebt. Was ihm an Lebensfragen bislang im angenehmen Dämmerlicht bereits oder bald beantwortbar erschien, wird nun grell ausgeleuchtet und springt ihn als dramatisch unbeantwortbar an: Wer bin ich? Was ist der Tod? Was sagt mein Gewissen? Woran erkenne ich die Lüge?
Mit der Dimension «Geist» zu rechnen haben, bedeutet nicht vornehmlich eine Er­höhung des Lebensgefühls ins Tiefere und Angenehmere. Es stellt eine existentielle Be­un­ruhigung dar, die erst die Wachheit, die wir dann Geistesgegenwart nennen, ermöglicht.