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Diethild Plattner

Selma Lagerlöf – ich lese sie immer noch

Nr 196 | April 2016

Es gab eine Zeit, da konnte ich nichts anderes lesen. Kein zeitgenössischer Roman, auch keine Kurzgeschichte konnten meine Aufmerksamkeit fesseln. Egal jedoch, welche Seite in einem Text von Selma Lagerlöf ich aufschlug – sofort war ich mittendrin. Ich traute mich kaum, das zuzugeben. Mein Gott: Mitte dreißig, im 21. Jahrhundert – und Lagerlöf? – Weshalb war das so? Weshalb wirkten diese Texte so stark?
Selma Lagerlöf hat einmal behauptet, ihr Leben sei eine «einzige lange Variation über das Wort Wille» gewesen. Als hätte sie ihre Begabung erschaffen, indem sie sie mit all ihrer Kraft herbeiwünschte. Seit sie ein Kind war, wollte sie Schriftstellerin werden. Sie wurde es. Seit der Nobelpreis 1901 überhaupt verliehen wurde, wollte sie ihn eines Tages bekommen. 1909 war es so weit. Seit sie alt genug war, selbstständig zu denken, wollte sie für sich sorgen können und erkämpfte sich eine Ausbildung gegen den Widerstand des Vaters. Später finanzierte sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Verwandten und Freunde. Seit ihr Vater und ihr Bruder den heimatlichen Gutshof aufgeben mussten, träumte sie davon, ihn zurückzukaufen. 1907, nach dem Erfolg mit Nils Holgersson, sollte ihr auch dies gelingen.
Ist dieser unerschütterliche Wille, der ihr Leben prägte, auch in ihren Texten spürbar? In den starken Charakterdarstellungen? In der durchgearbeiteten Struktur? Ist es das, was ich spüren will, wenn ich «sonst nichts lesen kann» und zu ihren Büchern greife?
Wenn das stimmt, sind ihre dreibändigen «Erinnerungen» eine doppelte Lektüre-Empfehlung: Sie erzählen von der Kindheit eines äußerst willensstarken Menschen, und sie sind von der reifen Gestaltungskraft der Autorin durchdrungen.
Als Selma Lagerlöf 1921 anfing, ihren geliebten Hof Mårbacka so repräsentativ auszubauen, wie sie ihn sich wünschte, wollte sie zugleich die Erinnerung an das Mårbacka ihrer Kindheit bewahren und schrieb ihre Memoiren. Die ersten Kapitel scheinen lose und sporadisch entstanden zu sein, ohne dass sie einen Plan zur Veröffentlichung gehabt hätte. Doch der Gestaltungswille griff bald mächtig ordnend ein, wie sich aus Briefen der Autorin herauslesen lässt: Das Buch «handelt von meinem alten Hof, von meiner Großmutter und meinem Vater und ein wenig auch von mir. Ich habe es geschrieben, weil das getan werden musste, ehe ich zu alt werde, und überhaupt nicht, um berühmt zu werden. Jetzt habe ich meine Kindheitserinnerungen vor dem Vergessen gerettet, und darüber freue ich mich», schrieb sie an eine Freundin. In einem anderen Brief hat der Akzent sich schon verlagert: «Ich selbst bin ja Dichterin und mir gefallen lange, komplizierte Romane mit großen, starken Begebenheiten … Es wird seltsam sein, abzuwarten, ob man diesem Buch künstlerischen Wert zuerkennt. Das war zumindest meine Absicht.»
In den Folgebänden ihrer Erinnerungen setzt sie das Mittel der Perspektive so ein, dass das Erzählte noch authentischer wirkt, ihre Absicht ist jedoch eine künstlerische: «Es ist ein neues Experiment, auf diese Art zu versuchen, sich selbst, seine Ideen und Erfahrungen aus einer Zeit vor 60 Jahren wieder zum Leben zu erwecken, ohne zu berücksichtigen, was man später vom Leben gelernt hat.» Den dritten Band gestaltet sie als Tagebuch und dichtet sich endlich die Jugendliebe an, über deren Aus­bleiben sie ein Leben lang gescherzt hatte.
Eine Geschichte wird wahr, wenn sie gut erzählt ist – das war zweifellos Selma Lagerlöfs Auffassung. Und gut und wahr erzählen, das wollte sie. Deshalb kann sie auch heute noch von vielen, deshalb muss sie von einigen immer wieder gelesen werden.