Maria A. Kafitz (Text) & Charlotte Fischer (Fotos)

Verwandlung ist ein magischer Prozess

Nr 197 | Mai 2016

«Sind Sie sicher, dass die Adresse stimmt?» Als der Taxifahrer die Quittung ausstellt und ich aussteigen will, fragt er mich nochmals und mit ungläubigem Blick: «Hier soll eine Künstlerin sein? Schauen Sie besser nach, ich warte.»
Er wartet tatsächlich und fährt erst davon, als ich ihm ein Zeichen gebe, dass ich hier durchaus richtig bin und gefunden habe, was ich suchte: Zwischen den Schildern privater Arbeitsvermittlungsagenturen, mehrerer Software-Anbieter, allerlei anderer Dienstleistungskonzepte und diverser Security-Firmen (zwei nicht gerade schmächtig wirkende Exemplare dieser Berufsgruppe genießen am Eingang just ihre Zigarettenpause) habe ich das einprägsame Logo und den klaren Schriftzug von renna deluxe recht schnell erblickt. – Beim Gang hinauf durchs Treppenhaus, das den wenig erwärmenden Charme von zweckorientierter Industriearchitektur verströmt, wird mir beim Gedanken an den kümmerigen Taxi­fahrer dennoch warm – und die Vorfreude auf die Begegnung mit Christiane Hübner, dem kreativen Kopf hinter dem Label renna deluxe – Leidenschaften aus Stoff & Papier, erhöht zudem die Gradzahl. (Den Namen «Renna» erhielt Christiane Hübner in den 1980er Jahren von guten Freunden. Als sie einen Namen für ihr Label brauchte, musste sie daher nicht lange suchen.)

Christiane Hübner lacht, als ich ihr vom Taxifahrerzweifel erzähle, um mir sogleich zu widersprechen: «Ich bin keine Künstlerin. Ich bin Gestalterin.» Der Fotografin Charlotte Fischer, die uns durch den Tag begleitet, fällt im Hintergrund bei dieser sehr klar gesetzten Aussage vor Freude fast die Kamera aus der Hand. Da spricht jemand ganz unverhohlen aus, was sie selbst über sich und ihr Tun denkt: Sie arbeitet künstlerisch – ist aber keine Künstlerin! Was denn den Unterschied ausmache, will ich von beiden wissen, und erhalte ohne Zögern eine Antwort von Christiane Hübner: «Kunst ist ein tiefes Bedürfnis, ein innerer Drang. Es ist die einzige Möglichkeit, mit Dingen umgehen zu können. In der Kunst steckt etwas Existenzielles. Ich bin gestalterisch tätig – immer und in allem, was ich mache. Ich gestalte Produkte, verwandle Dinge. Das ist zwar auch ein innerer Drang, aber der hat einen anderen Ursprung und Anspruch.»
Dass sie gestaltet, offenbart sich schon beim ersten kurzen Blick ins Atelier: Die Treppenhausstimmung ist im Nu verwandelt. Im Atelier wirkt alles licht und leicht, klar und kunstvoll. Das gilt nicht nur für den Raum, das gilt auch für die «Dinge», die sie entwirft und herstellt, die in ihrer Verschiedenheit und Vielfalt dennoch einen gemeinsamen Charakter haben: «Sie sollen poetisch sein, aber nicht im Kitsch versinken.» Diese Beschreibung trifft auf alles zu, was sich hier finden lässt. Auf fast alles.
Ein winziger Plastikflamingo, der auf einem Stapel zu Reiseetuis verarbeiteter alter Landkarten thront, bildet auf den ersten Blick die Ausnahme. Und er ist dennoch keine, da der kleine Kerl auf den Weltkarten der Szenerie ihre optisch poetische Note gibt. «Im Kölner Zoo haben die Flamingo-Pfleger sogar Federn für mich gesammelt», erzählt Christiane Hübner freudig und zeigt ihre Federsammlung. «Was aus ihnen wird, weiß ich noch nicht.»

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Fotos: © Charlotte Fischer | www.lottefischer.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Andere Federn, meist in gedruckter Form, haben ihren Weg schon in die Produktlinie der Designerin gefunden und zieren ihre Atelier- und zahlreiche Zimmer­wände irgendwo in der Welt. Sie scheint eine Zuneigung zu Vögeln jeglicher Art zu haben, denn neben den Vogelhäuschen mit dem reizenden Namen Kaffeeklatsch, die sie aus altem Geschirr herstellt, gibt es eine weitere «Vogelserie», die viel über ihre Art zu arbeiten und zu gestalten verrät: Auf einem Ast sitzt eine Drossel. Nicht als naturalistische Nachbildung, sondern als schlichte Silhouette. Ihr Federkleid besteht aus Worten in Fraktur.* * Und diese Worte stammen nicht aus dem uns allen bekannten Lied zum Text von Hoffmann von Fallersleben, in dem Amsel, Drossel, Fink und Star die Wiederkehr des Frühlings verkünden, sondern aus einem Buch, das ganz anderes verkündet – nämlich dem BGB, dem Bürger­lichen Gesetzbuch. «Es ist ein so schönes Gefühl, wenn man das erste Mal morgens wach wird, weil die Drossel schlägt: Ah, endlich – der Frühling kommt! Dieses persönliche Glücksempfinden auszudrücken war mir aber zu niedlich, es musste ein Gegenpol her. Da ich mit alten Büchern arbeite, bin ich durch mein Archiv gegangen und fand das BGB. Am Anfang war es eine Ausgabe aus dem Jahr 1920, aktuell ist es eine von 1930. Damit bringe ich einen konzeptio­nellen Bruch hinein. Von Weitem ist es ein poetisches Wandobjekt, von Nahem hat man den Kontrast mit dem sachlichen Text.»

Konzeptionelle Brüche und gezielte Kontraste, zarte Poesie und bewusste Reduktion – diese Begriffe treffen auf alle Arbeiten der Designerin zu und entspringen doch einem eher überbordenden Impuls: der Neugierde. «Neugierde ist meine Basis. Und das ist mir eindeutig in die Wiege gelegt worden. Meine Mutter war freie Künstlerin, zum Schluss Bildhauerin, und es wurde bei uns immer kreativ gearbeitet. Es gab immer das Angebot, Dinge zu erlernen, zu üben, zu erfahren. Sie hatte eine große Werkstatt, in der sie alle Techniken ausprobierte, weil sie neugierig auf alles war, was es gab. Ich baue durchaus auf den Techniken meiner Mutter auf, die sie mir beigebracht hat. Vor allem auch auf der ‹Technik›, wie man sich selbst, also autodidaktisch, etwas erarbeiten und erschließen kann.»

Dass Christiane Hübner für ihr Architektur- und Produktdesign-Studium Weimar und die Bauhaus-Universität wählte und nicht Stuttgart oder München, wundert beim Betrachten ihrer Kreationen wenig. Vielmehr scheint es so, als hätte dort ihre Leidenschaft für die Mixtur aus freiem Experimentieren und gezieltem Reduzieren aufs Wesentliche der Form das ergänzende theoretische Futter erhalten.
«1991 nach Weimar zu gehen, als die Hochschule für Architektur und Bauwesen, wie sie damals hieß, voll im Umbruch war und aus dem DDR-Regime in das demokratische System umgestellt wurde, war toll. Da war so viel Bewegung in allem drin. Dort zu arbeiten, wo Gropius gearbeitet hat oder in dem Raum Produktdesign zu studieren, der früher das Atelier von Marcel Breuer war, das war für uns alle unglaublich. Wir haben uns als Studenten unweigerlich mit dem Ort und den Ideen ausein­andergesetzt. Das Bauhaus wurde ja nicht nur als Name großgeschrieben, sondern war auch in der Lehre noch gegenwärtig. Und dass es Produktdesign überhaupt gibt, also gute Gestaltung für jeden Verbraucher möglich zu machen, hat hier seine Wiege.»
Marcel Breuer, der Vater aller Stahlrohrmöbel, formulierte kurz und auf Punkt seine Maxime fürs Produktdesign folgendermaßen: «Wenn wir die Sachen so gestalten, dass sie richtig funktionieren und einander in ihrer Funktion nicht stören, sind sie fertig.» Der Anfang einer Produktidee, deren Ergebnis von nichts zu viel, aber auch nicht zu wenig hat, liegt für Christiane Hübner im Material, das sie ver- und bearbeitet. Und diesem Material ist eines gemeinsam: Es hat Geschichte. «Einfach nur hübsch funktioniert für mich nicht. Mich interessiert die Geschichte der Dinge. Bei allem, was ich mache, geht es eigentlich auch immer darum, Dingen, die nicht mehr angeschaut werden, wieder einen Wert zu geben.»

Upcycling heißt das neue Zauberwort dafür, und in ihrem Fall sind es vor allem alte Landkarten, Zeitungen, Notenpapiere, Bücher und Stempel, die als Inspirationsquelle dienen und durch den gestalterischen Prozess eine neue Bedeutung erhalten.
«Mich interessieren bei Buchseiten die Grauwerte, die beim Druck entstehen, die auf jeder Seite anders sind. Mich interessiert der Buchstabe als Charakter an sich. Jeder Buchstabe hat ein eigenes Gesicht. Jedes Papier seine eigene Struktur. Die daraus entstehenden Kleinserien haben alle Unikat­charakter, denn jedes Blatt Papier, besonders wenn es bedruckt ist, ist einmalig.»
Mit solchen Sätzen, mit diesem Blick auf Bücher und Schriften erobert Christiane Hübner natürlich sogleich das Herz aller Buchliebenden. Wenn man ihr dann noch – untermalt vom leisen, fast musikalischen Klicken der Fotokamera im Hinter­grund – beim Arbeiten über die Schulter schaut, zusieht, wie sie schneidet und knickt, stanzt und faltet, stempelt und presst, bemerkt man ihre Freude und Hingabe, mit der sie sich den Materialien und Strukturen nähert. Bemerkt das Spielerische und Verspielte, das trotz der betonten Reduktion in ihren Produkten spürbar ist.

Das Herz der Kreativszene beginnt Christiane Hübner gerade auch mit ihren Arbeiten rund um die japanische Falt- und Färbekunst Shibori zu erobern, mit der sie sich seit einer längeren Japanreise besonders im vergangenen Jahr intensiv beschäftigt hat. Das Faszinierende an dieser sehr alten Technik der Stoffveredlung – die Anfänge gehen bis ins 6. Jahrhundert zurück – liegt für die Designerin darin, «dass man die traditionellen Muster gezielt reproduzieren und zugleich neue entwickeln kann. Ich mag es sehr, Tradition und Moderne zu verbinden. Außerdem gibt es beim Färben mit echtem Indigo, das klassischerweise dafür verwendet wird, einen überaus magischen Moment: Die Färbung ist ein Verwandlungsprozess. Das Farbwasser selbst ist gelb-grün – kommt der nasse Stoff aber an die Luft, beginnen die Pigmente mit dem Sauerstoff zu reagieren und sich in dunkles Blau zu verwandeln. Das Farbergebnis der Muster beim Öffnen des Stoffes wahrzunehmen ist wie ein weiteres Gestaltungsmoment.»
Voll Begeisterung nimmt sie einige der selbst gefärbten Stoffbahnen, die sie später zu Taschen, Tüchern, Wandbildern oder Kissen weiterverarbeitet,** aus dem Regal und breitet sie aus. Und während das Licht durch die großen Atelierfester auf den Stoff fällt, durch die Linien und Streifen, Kreise und Quadrate hindurchleuchtet, scheinen auch die kunstvollen Muster in den Händen der Gestalterin sich nochmals zu verwandeln.