Safiye Can im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Lest Gedichte!

Nr 199 | Juli 2016

Eigentlich passen sie überall und immer wieder – und sind wie frische Luft für den Kopf. Manche sind kräftig und klar, andere vielschichtig und zart, witzig oder tragisch: Gedichte – sie können uns ein Leben lang begleiten (wie mich Tucholskys Zeile «Ja, das möchste: … vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße»). Ihre Vielfalt ist riesig, jeder kann etwas für sich finden. Warum sind sie so wichtig? Sie sind nie Gebrauchsanweisung, wie man besser, erfolgreicher funktioniert, sondern sprechen etwas anderes, Tiefgründendes und Freies in uns an. Sie nehmen uns durch den Rhythmus ihrer Sprache mit wie ein gutes Musikstück. Hierauf weist auch der klangvolle Titel des ersten erfolgreichen Gedichtbandes der Lyrikerin Safiye Can hin, «Rose und Nachtigall». Inzwischen ist ihr zweiter Gedichtband erschienen, «Diese Haltestelle habe ich mir gemacht» (beide im Größenwahn-Verlag erschienen), der dritte ist in Vorbereitung. Wer irgend kann, sollte eine Lesung mit ihr besuchen, in der sie auf ganz und gar eigene Art Gedichte für alle Zuhörenden lebendig werden lässt. Ein Glück auch für Schüler, denen sie in Schreib-Workshops die Angst vor der hohen Literatur nimmt.

Doris Kleinau-Metzler | Liebe Frau Can, wie wird man Dichterin?
Safiye Can | Der Berufsweg einer Dichterin ist nicht so klar und hat meine Eltern auch überrascht, denn eine Literatin gab es in unserer Familie bis dahin nicht. Mit vierzehn erhielt ich einen Gedichtband mit türkischen Gedichten als Geschenk. Auch wenn das Lyrische mir angeboren scheint, brauchte es doch einen Auslöser, damit es sich entfalten konnte – und ab da schrieb ich täglich Gedichte. Lange habe ich versucht, zwischen Hobby und Beruf zu trennen: Ich schrieb Gedichte wie andere Basketball spielen und studierte Rechtswissenschaft, wechselte dann zur Philosophie, was ich erfolgreich abschloss. Aber irgendwann kam für mich der Zeitpunkt, an dem mir klar wurde, dass ich nicht nur für beste Freunde oder die Schublade schreiben wollte, sondern intensiv an Gedichten arbeitete, die für den Leser da draußen gedacht waren.

DKM | Als Außenstehende stellt man sich vielleicht vor, dass Sie einen Einfall haben, dann einen Reim suchen – und fertig ist das Gedicht …
SC | (lacht) Oh nein. Inspirationsmomente sind wichtig für die Entstehung eines Gedichtes, aber es steckt auch viel Arbeit im Detail. Mit zeitlichem Abstand und Distanz zum Geschriebenen lese ich meinen Text immer wieder durch. Inhaltlich muss es stimmen, aber zum Ganzen gehört auch der Rhythmus, der Klang. Nach einer poetischen Nachtschicht kann es sein, dass ich am Morgen erstaunt das Geschriebene lese und denke: Das ist von mir? Dann geht der Prozess weiter, du bemerkst Stolper­stellen, kannst jedoch nicht einfach ein anderes Wort einbauen, weil das den gesamten Rhythmus verändern würde. Der Text signalisiert, was noch nicht ist … Natürlich lösche ich auch viel, und es gibt einen Ordner mit unfertigen Arbeiten und Notizen. Die Arbeit am Gedicht ist fertig, wenn es genau die Form erlangt, die ich zu Beginn vor Augen hatte.

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DKM | Deshalb können Worte und Zeilen aus Gedichten so treffen, unvergänglich sein. Welche Themen sind Ihnen für Ihre Gedichte wichtig?
SC | Meine Lyrik kommt immer direkt aus dem Herzen und ist stets eine persönliche Angelegenheit – aber nicht im Sinne einer Fernsehshow, die nach Sensation und Unterhaltung giert. Ich offenbare in der Lyrik etwas Tiefes von mir, entsprechend kann in einem Gedicht etwas Zartes, Zerbrechliches oder aber Destruktives sein. Es ist sehr persönlich und dennoch auch sehr allgemein. Lyrik hat für mich mit Seele, mit Gefühl zu tun, mit dem, was uns als Menschen, jeden Einzelnen von uns, ausmacht. Damit meine ich nicht Klischees von Liebe oder Frust, sondern das, was Menschen wirklich innerlich ahnen, erleben, fühlen. Dieses seelische Potenzial haben wir alle. So sind Gedichte für mich auch wie ein Ruf aus der inneren Einsamkeit nach dem anderen: «Sie sind doch da oder?/ Wie viele sind Sie denn da?» Das spreche ich in meinem neuen Lyrikband Diese Haltestelle hab ich mir gemacht direkt an. Gedichte können etwas in uns wachrütteln und Kernfragen des Lebens berühren.

DKM | Wach halten, damit wir nicht verhärten. Auch Ihr Langgedicht Rose und Nachtigall verbindet vieles – tiefe Liebe und Schmerz. Das wunderschöne, sehnsuchtsvolle Bild von Rose und Nachtigall (wie oft hören wir eine Nachtigall?) findet sich Jahrhunderte zuvor in der islamischen Mystik (beispielsweise bei Rumi). Nun verwenden Sie es in der deutschsprachigen Lyrik. Türkisch ist ihre Muttersprache – eine Inte­gration?
SC | Integration ist ein Wort, das ich gar nicht mag, weil es so oft missbraucht wird. Mit Integration wird oft Assimilation gemeint, das heißt komplette Angleichung an das, was schon ist. Ich bin eine Tscherkessin. Meine Vorfahren stammen aus Tscherkessien im Kaukasus und wurden vor ca. 150 Jahren vom zaristischen Russland ermordet oder vertrieben. In der Türkei durften sie ihre Sprache nicht öffentlich sprechen und wurden so zur «Integration» gezwungen; als Resultat dessen kann ich heute meine eigentliche Muttersprache nicht sprechen. Es treffen bei Migration zwei Kulturen aufeinander, die jeweils ihr Eigenes, in Jahrhunderten Gewachsenes als innere Welt mit­bringen. Das Besondere, das ich mit der türkischen Kultur mitbringe, ist in der Metapher von «Rose und Nachtigall» verankert. Da ich in Offenbach geboren wurde und aufwuchs und meine zweite Muttersprache Deutsch ist, adaptiere ich diese Metapher in die deutschsprachige Lyrik, sodass es dem deutschen Leser auch geläufig wird. Damit öffnet sich etwas, das vorher nicht so wahrgenommen werden konnte – und nun wach werden kann.

DKM | Eine Bereicherung im wörtlichen Sinn. Auch Ihre Lesungen eröffnen so etwas wie eine zusätzliche Ebene, wenn Sie, wie getragen vom Gedicht selbst, vorlesen. Eine Art Sprachmusik, die sich mit dem Inhalt verbindet.
SC | Im Prinzip ist es so: Das Gedicht gibt mir einen bestimmten Rhythmus vor, schon während ich schreibe. Diesen Rhythmus muss ich beim Schreiben einfangen, das heißt die Wörter­konstellationen müssen inhaltlich wie rhythmisch aufeinander aufgebaut sein und ein Ganzes ergeben, sodass das Gedicht sagt: Ich bin jetzt fertig. Und das Gedicht ist immer knallhart ehrlich! Aus diesem Rhythmus heraus, der mir quasi diktiert ist, trage ich vor. Ich liebe es, Gedichte vorzutragen, nicht nur meine, sondern auch andere, die ich mir wie zu meinen eigenen mache, weil sie mich berühren. Auch bei meinen Übersetzungen geht es mir ähnlich.

DKM | Schüler lernen viel über Literatur in der Schule, auch Gedichte, aber selten setzt sich das Interesse später fort. Damit geht ihnen etwas verloren, an dem sie Freude haben könnten. Wie war es bei Ihnen?
SC | Mein Interesse an Literatur wurde nicht speziell in den Schulen bestärkt, die ich besucht habe. Deshalb – und weil ich etwas zur Zukunft der zeitgenössischen Lyrik beitragen kann und will – gebe ich Schullesungen und leite Schreibwerkstätten mit der anschließenden Möglichkeit einer Diskussionsrunde. Dafür habe ich den sogenannten «Dichter-Club» gegründet. Schüler­innen und Schüler lesen nämlich durchaus Gedichte, aber wenn sie als Hausaufgabe Gedichte interpretieren sollen, haben sie keine Lust dazu, auch weil nach ihrem Eindruck nur das Wiedergeben des schon Bekannten erwartet wird.
In einer von der Schule organisierten Schreibwerkstatt spreche ich Schüler individuell an – und alle haben die Fähigkeit, Gedichte zu schreiben. Manche haben schon lange heimlich Verse geschrieben über das, was sie aufwühlt; auch aus den coolen Jungs, die am Anfang motzen, kann ich etwas herauskitzeln. Es ist nicht Ziel eines Workshops, den Dichter der Zukunft herauszupicken, sondern Möglichkeiten des ganz persönlichen, eigenen Artikulierens zu öffnen. Diese Fähigkeit trägt auch dazu bei, dass wir unser Leben selbst gestalten und uns als Individuen abgrenzen können. Doch dafür braucht man zumeist jemanden, der einen abholt, weil man selbst die Möglichkeiten nicht kennt. Kinder rütteln mich mit ihren Fragen immer wieder wach!

DKM | Kann man denn heute noch von Lyrik leben?
SC | Von Büchern allein kann keine Lyrikerin leben. Lesungen sind wichtig für mich, aber auch meine Tätigkeit als Kuratorin der Zwischenraum-Bibliothek bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, die Autoren vorstellt, die sich mit Diversität und Migration befassen, sowie meine Arbeit bei der Horst-Bingel-Stiftung für Literatur.

DKM | Zum Abschluss – warum schreiben Sie vor allem Gedichte?
SC | Weil Lyrik für mich H2O ist. Auch ist Lyrik für mich die freieste Art, mit Sprache schöpferisch zu arbeiten! Lyrikformen bieten mir so viel – vom Zweizeiler bis zum Lang­gedicht über mehrere Seiten sowie die Visuelle Poesie, hier insbesondere die Konkrete Poesie, die ich für mich entdeckte. Wir brauchen gerade in unserer Zeit Lyrik, einfach weil heute so viel funktionieren muss, effektiv abläuft, man ständig die Uhr im Nacken spürt. Dazu ist Lyrik der Gegensatz. Und daher meine Aussage: Lest Gedichte!