Birte Müller

Zucht und Unordnung

Nr 199 | Juli 2016

Fast alle Leute sind sich einig: auch ein behindertes Kind muss gut erzogen werden – so eines BESONDERS gut sogar! Ich finde zwar, dass das eine Diskriminierung ist, denn warum muss gerade ein behindertes Kind besser erzogen sein als ein anderes – als Ausgleich?
Aber keine Angst, ich versuche schon aus reinem Selbst­erhaltungstrieb, mein Kind möglichst gut zu erziehen, wenigstens in einigen Bereichen. Aber Hilfe bekommen wir, außer von der Schule, dabei nur selten. Niemand hat Lust, mit Kindern streng zu sein – inklusive mir. Lieber verschenken alle nur Süßigkeiten, die dann die Eltern zu Hause verbieten müssen, weil es ständig zu viel ist. Anders als allgemein angenommen, sind wir übrigens mit unserem behinderten Kind deutlich strenger als mit unserem unbehinderten. Das kommt vielleicht daher, dass Willi nicht diskutieren kann – und Ausnahmen blitzschnell klare Strukturen zerstören, die wir mühselig aufgebaut haben ...
Leider hält es kaum ein Erwachsener aus, wenn Willi in seiner Gegenwart zum Beispiel etwas aufheben muss, was er soeben durch die Gegend geworfen hat. Sie heben es für ihn auf. «Ach, lass ihn doch», bekomme ich dann zu hören, wenn ich darauf bestehe, dass er es selbst machen soll. Auch mein Vorhaben, Willi möge andere Menschen begrüßen und verabschieden, scheitert komplett am Gegenüber. Außer seinem Opa gibt Willi fast niemand die Zeit, die er braucht, um sein generelles Un­behagen gegenüber jeglicher Aufforderung zu überwinden. Sie haben sich schon lange von Willi abgewendet und sehen sein ausgestrecktes Händchen oder winken nicht mal mehr, weil sie damit beschäftigt sind zu beteuern, dass das doch gar nicht nötig sei. Ich finde sehr wohl, dass eine kleine Begrüßung nötig ist, aber ich kann es Willi wirklich nicht beibringen, da ich unserem Besuch sonst auch streng in die Augen blicken und klar sagen müsste: «Stopp, erst Willi guten Tag sagen, dann Kaffee trinken!»
Ich denke, dass ich oft für sehr herzlos gehalten werde, denn bei einer konsequenten Ansage an Willi klinge ich eher wie ein Drill Instructor der US Marines als wie eine mitfühlende Mutter. Es hat ja auch gar nichts mit Gefühlen zu tun: Willi schleudert seinen Schuh ins Gebüsch, dann muss er ihn auch wieder rausholen. Diejenigen Menschen, denen das zu hart erscheint, bekommen ja auch nicht zu Hause die Kartoffeln mit Soße oder Glasmurmeln an den Kopf.
Willi lernt zwar langsam, aber ob feste Regeln gelockert werden, bemerkt er sofort und testet danach noch ewig, ob man heute vielleicht wieder beim Familienfest einen Teller auf den Boden zerspringen lassen darf – das ist ja auch ein zu schönes Geräusch, der Teller sieht danach ganz erstaunlich anders aus und Oma springt sofort auf, um mit Willi zu spielen.
Fegen lasse ich Willi allerdings nicht mehr als «Erziehungsmaßnahme». Ich durfte letzten Sommer feststellen, als er das dritte Glas am selben Tag zerdeppert hatte, dass er begeistert zum Schrank lief und Handfeger und Schaufel holte. Die Konsequenz aus absichtlichen Scherben ist nun, dass er solange ins Bett muss, bis ich alleine gefegt habe.
Bei jeder Verhaltensbesonderheit von Willi muss man sich die Frage stellen: Welchen Mehrwert hat er davon? Um dann einen anderen Weg zu finden, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Willi darf mir jetzt immer auf der Terrasse beim Fegen helfen – auf jeden Fall an den Tagen, an denen es mir egal ist, dass er den Eimer immer wieder auskippt und bei dem Versuch mit dem Handfeger alles erneut aufzunehmen, den Dreck glücklich und gleichmäßig verteilt.