Benjamin J. Myers

Wie das Fantastische möglich wird

Nr 199 | Juli 2016

Wissenschaft versus Magie

Die meisten von uns kennen den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit, und da liegt das Problem. – Wir wünschen uns eine Wirklichkeit, in der fantastische Dinge passieren können. Wirklich passieren. Wer hat sich noch nie gewünscht, in einer Welt zu leben, in der es möglich ist, durch die Zeit zu reisen, unsichtbar sein zu können, eine unfassbar mächtige Waffe zu schwingen oder sich mit der Geschwindigkeit eines Gedankens durch das Universum zu bewegen? Aber so funktioniert die Wirklichkeit nun einmal nicht. Deshalb wird die Spielwiese der ideenreichen Literatur zu dem Ort, an dem Wirklichkeit und Fantasie miteinander verschmelzen.
Ich wollte in der Bad-Tuesdays-Reihe einen Kosmos erschaffen, wo die alltägliche urbane Wirklichkeit einer Welt mit fremdartigen Kreaturen, multiplen Universen, Geistern und geheimnisvollen Ereignissen so nah wie möglich kommt. Chess und ihre Brüder Box und Splinter sollten genauso geschockt und ratlos sein, wie wir es wären, wenn wir herausfänden, dass unsere Welt nur die äußere Hülle von etwas viel Gefähr­licherem ist, von etwas Unberechenbarem und Fantastischem. Aber damit die Sache auch spannend wird, damit wir als Leser genauso vom Donner gerührt werden wie sie, war es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Welt real ist. Und an dieser Stelle kommt das Problem mit der Magie ins Spiel.
Eigentlich habe ich zwei Probleme mit Magie: Das erste ist, dass über Magie schon so viel und so brillant geschrieben wurde. Wir alle kennen den Jungen, «dessen Name nicht genannt werden darf», und er steht am Ende einer langen Reihe magischer Geschichten. In meinen Augen gelingt es Ursula Le Guin in ihren Erdsee-Romanen ganz wunderbar, eine Welt zu beschreiben, in der Magie eine reale Kraft ist, die auf eiserner Disziplin und durch harte Arbeit erworbenes Wissen beruht. Aber wie auch immer: Es ist sehr schwer, über Magie etwas Neues zu schreiben.

Allerdings ist das zweite Problem der wahre Grund, warum ich vor Beschwörungen, Zauberstäben und dergleichen zurückschrecke. Welche Grenzen hat Magie in der wirklichen Welt? Warum können wir nicht alle zaubern? Warum benutzen wir unsere Kräfte nicht dazu, im Lotto zu gewinnen? Warum sollten wir uns beschränken, wenn die Magie es uns ermöglicht, alles zu tun? In einer Geschichte, die in der Wirklichkeit wurzelt, ist dies das echte Problem.
Und deshalb setze ich die Wissenschaft ein. Ich meine nicht die Wissenschaft, die man aus der Schule kennt: das Messen von Strom, das Auswendiglernen des Periodensystems, der Versuch, einem toten Frosch Zuckungen zu entlocken. Ich meine damit parallele Universen, Bioengineering, Robotics, multidimensionale Reisen ... vielleicht sogar Zeitreisen. Man muss keine Zauberbücher wälzen, um einen Weg zu finden, wie man fantastische Dinge geschehen lassen kann. Man muss nur einen Blick in Texte über die sich rasend schnell ent­wickelnden modernen Wissenschaften werfen. Michio Kakus Im Hyperraum ist ein guter Anfang. Es ist leicht zu lesen und wird jeden Leser davon überzeugen, dass wir in einem Uni­versum (oder vielleicht tatsächlich in Universen?) leben, in denen außergewöhnliche und schier unglaubliche Dinge gleich hinter der nächsten Ecke auf uns warten.
Wenn also die bösen Buben in den Bad-Tuesdays-Büchern danach trachten, die Zeit zum Stillstand zu bringen, indem sie die Universen zu ihrem Anfangspunkt zurückführen, ist das keiner von «Myers magischen Momenten»: so funktioniert es wirklich. Und das Verbergen von Orten oder Dingen durch Spin-Symmetrie? Die Transplantation von bionischen Prothesen beim Verlust von Armen oder Beinen? Durch Wurmlöcher von einer Welt in die nächste zu reisen? Unentdeckt durch eine Stadt zu huschen, mithilfe von verborgenen Dimensionen? Das alles steckt in der Wissenschaft, und zwar in einer Wissenschaft, die genauso wie wir ein Teil der Realität ist. Was bedeutet, dass all das Seltsame aus der Welt der Tuesdays aus dem Nichts auftauchen kann – in einem Nachtclub, in einer Touristeninformation oder in einem Supermarkt. Ich mag diese Möglichkeit, dass immer und überall etwas geschehen kann, selbst an den gewöhnlichsten Orten. Es verleiht der Fantastik eine unmittelbare und verblüffende Realität.

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Fotos: ©

Es sollte uns eigentlich nicht über­raschen, dass die Wissenschaft genauso fantas­tisch sein kann wie die Magie. Immerhin ist heute vieles von dem, was einmal «Magie» war, wissenschaftliche Realität. Die Gewänder mögen nicht lang, wallend und schwarz sein, sondern weiß – aber man muss sich nur einmal anschauen, was diese Weißkittel vermögen! Sie können Kranke heilen, die Welt hell machen, Energie erschaffen und uns weiter und weiter bringen, schneller und schneller, und sie können es richtig knallen lassen. Also, sucht es euch aus: weißer Kittel oder Sternenmantel. In den Bad-Tuesdays-Büchern ist es jedenfalls die Magie der Wissen­schaft, die das Fantastische möglich macht.

«Der Stärkste gewinnt», meinte Splinter achselzuckend.
«Wie immer.»

Bevor Splinter aus dem Wagen steigen konnte, packte ihn der Fahrer am Ellbogen.
«Hier geht es nicht darum, sich der stärkeren Seite anzuschließen», knurrte er, «sondern der richtigen.»


The Bad Tuesdays – Die verbogene Symmetrie