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Marie-Thérèse Schins

Shibus größter Wunsch

Nr 199 | Juli 2016

gelesen von Simone Lambert

Was wünschen sich Kinder heute: eine neue Playstation? Einen tollen Urlaub mit der Familie? Ein Haustier?
Marie Thérèse Schins entführt uns in eine Welt, in der der größte Wunsch eines kleinen Jungen ganz anders lautet.
Nach Indien geht die Reise, in ein kleines Dorf, umgeben von Bananen- und Teeplantagen. Dort lebt Shibu mit seiner Familie in einer niedrigen Hütte mit löchrigem Dach; sie wohnen zu viert in einem Raum. Es ist sein neunter Geburtstag, als ihm sein Vater erklärt, dass er ihn weggeben muss, weil er ihn nicht mehr ernähren kann.
Shibu ist entsetzt und verletzt und rennt davon. Dann aber versteht er, dass die Eltern ein Opfer bringen, damit er, Shibu, weiterhin zur Schule gehen kann. Er weiß, dass allein Bildung eine Chance bietet, die Armut der Familie eines Tages hinter sich zu lassen. Mit seinem Vater macht er sich auf den Weg in die große Stadt, in der sich das Armenhaus für Kinder befindet. Im Gepäck das Schreibheft mit dem Elefanten vorne drauf, das ihm sein bester Freund zum Geburtstag schenkte, und den Glücksbringer seiner Mutter, der einen winzigen Ganesha, den Gott mit dem Elefantenkopf, darstellt.
Und tatsächlich scheint Ganesha, der Überwinder der Hinder­nisse, ihm Glück zu bringen. Der Weg selbst ist beschwerlich: es gibt keinen Bürgersteig und die Hauptverkehrsstraße ist laut und gefährlich, der heiße Asphalt verbrennt ihm die nackten Füße – Shibu hat keine Schuhe. Bei dem Mädchen Selvi und ihrer Familie, die Vater und Sohn am zweiten Abend ihrer Reise kennenlernen, finden die beiden freundliche Aufnahme und
Unterstützung: Selvis Vater organisiert eine Mitfahrgelegenheit, sodass sie den letzten Teil des Weges nicht mehr zu Fuß be­wältigen müssen.
Der Abschied vom Vater fällt Shibu schwer, doch er fasst auch Vertrauen zu Ghita, die ihre Schützlinge fürsorglich und liebevoll, aber auch mit Strenge erzieht. Shibu bekommt aus­reichend zu essen und kann weiter zur Schule gehen.
Marie Thérèse Schins, die schon oft in Indien unterwegs war, schildert vorsichtig die indische Realität. Die Schulsituation ist für westliche Verhältnisse unvorstellbar: Lastwagen kürzen ihren Weg ab, indem sie über den Schulhof fahren, der nicht eingezäunt ist. In der Schule sitzen die Kinder auf dem Boden. Shibus neues Leben ist nicht ohne Hoffnung. Er hält sich daran fest, dass seine Familie ihn liebt und zurückholt, sobald der Vater wieder Arbeit hat. Und dann ist da noch die neue Freundschaft zu Selvi, die in wohlhabenden und sicheren Verhältnissen aufwächst und für die seine Herkunft, seine Not und wie robust er damit umgeht, ein einziges großes Abenteuer ist. Und er freundet sich mit Arun an, der von seiner Familie ausgesetzt wurde. Halt bieten ihm auch die hinduistischen Traditionen – eine Gelegenheit, das bunte, üppige, pittoreske Indien zu zeigen: das Tempel­fest mit dem heiligen Tempelelefanten wird zum glücklichen, innigen Erlebnis für Shibu, das ihm die Erfüllung seines größten Wunsches zu versprechen scheint …
Trotz der krassen sozialen Unterschiede gibt es Solidarität – das ist wohl die wichtigste Erfahrung für den kleinen Jungen. Das Buch überrascht immer wieder mit konkreten Details der Armut und der anmutigen Überwindung der Hindernisse, die auf menschlicher Hinwendung und einem respektvollen Umgang mit der Scham beruht. Es ist ein kenntnisreicher Optimismus, der dieses Buch auszeichnet.