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Markus Sommer

60 Jahre und sehr leseweise …

Nr 201 | September 2016

Meine Frau sagt auch nach jahrelangem Aufenthalt in München noch immer «Buch und Spiel», wenn sie den wunderbaren Laden im Herzen des legendären Künst­ler­viertels in Schwabing meint. Und wirklich findet man dort wohl noch mehr Bücher als Kunstwerke.
Ich ging noch nicht in die Schule, als meine liebe Großmutter mich mit Kunst und Spiel vertraut machte. Sie lebte in der damals für mich noch weit entfernt wirkenden Großstadt München, und immer, wenn sie uns besuchte und besonders zauberhafte Geschenke mitbrachte, fiel der Name dieses Ladens. Muscheln, die man ins Wasser werfen musste, damit sie sich bald darauf öffneten und eine kunstvolle Blume oder ein paar bunte Fische entließen, kamen von dort, mechanisches Blechspielzeug, das helle Funken sprühen konnte, die von kreisenden Farbfolien gefärbt wurden, Döschen zum Herstellen von Seifenblasen und andere Herrlichkeiten. Und natürlich die wunderbarsten Bilderbücher ...
Aber es war doch mein größter Wunsch, bald selbst lesen zu können – und ein paar Jahre später erfüllte sich dieser auch. Seither wurden Buchhandlungen zu Oasen meines Lebens. Lange noch gab es in meinem kleinen niederbayerischen Heimat­städtchen keine eigene Buchhandlung, aber wenn wir die Omi besuchten, dann durfte ich ab und an doch mit ins Paradies von Kunst und Spiel.
Wie es kam, dass ich mich für die Anthroposophie zu interessieren begann, kann ich bis heute nicht sagen. Aber als 14-Jähriger habe ich mir in einer anderen Buchhandlung das Verzeichnis lieferbarer Bücher geben lassen und nachgeschlagen, was es denn an Büchern von Rudolf Steiner gibt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich hunderte von Titeln sah. Glücklicherweise war da ein gut informierter Buchhändler, der mir auf meine Frage, was man denn von Steiner gelesen haben sollte, Theosophie, Geheimwissenschaft im Umriss, Philosophie der Freiheit und Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? nannte.
Tatsächlich erwarb ich dann im Lauf der Zeit nach und nach jedes dieser Werke und las und diskutierte sie mit meinem besten Schulfreund. Dass sie alle und viele mehr auch bei Kunst und Spiel immer vorrätig waren und es gemütliche Ecken gab, um sich in diese Werke zu vertiefen, erleichterte die Entscheidung darüber, worauf ich mich als Nächstes einlassen wollte.
Aber auch ein anderes Segment des Buchsortiments wurde für mich zunehmend wichtig. Noch in der Schulzeit wurde ich erstmals Taufpate und so begann mich das Angebot an Bilder­büchern und Kinderliteratur zu interessieren. Immer konnte ich eine der Buchhändlerinnen um Rat fragen, und wenn ich ihr Alter, Geschlecht und Interessengebiete der Patenkinder nannte, erhielt ich ausgiebige Empfehlungen und Inhaltsangaben, sodass die schließlich gewählten Geschenke gleichermaßen Freude machten und einer guten Entwicklung dienten. Auch für die eigenen Lesebedürfnisse gab es hilfreichen Rat – und ein wenig hatte ich mich damals wohl auch in eine der jungen Buch­händler­innen verliebt, denn jede Gelegenheit, diese besondere Buchabteilung zu betreten, war von einem Hochgefühl und leichtem Herzklopfen begleitet.
So erlebte ich das später (mit andersartigem Hochgefühl) nur noch in der Buchhandlung zum Wetzstein in Freiburg im Breisgau – und vermutlich liegt dies daran, dass die Buchhändler beider Läden ein im Grunde recht ähnliches Konzept verfolgen: Vorrätig ist, was den Buchhändlern selbst gefällt und wovon sie überzeugt sind. Selbst wenn man als Käufer nicht in jeder Hinsicht deren Geschmack teilt, ist es im Zeitalter von Bestseller­listen, Buchhandelsketten und der Unendlichkeit an Einkaufs­- möglichkeiten im Internet eine unschätzbare Hilfe, ein handverlesenes Bücherangebot zu finden, dem man sich anvertrauen kann. Man kann mit einem schlechten Buch viel Zeit verschwenden, aber auch stilles Glück erfahren und den eigenen Horizont erweitern, wenn man ein gutes liest. Wenn meine Frau meint, an einem neuen Wohnort sei es essenziell herauszufinden, welchem Zahnarzt, Gynäkologen und Friseur man seinen Leib anvertrauen könne, dann möchte ich hinzufügen: Dem Buchhändler vertraue ich meinen Geist an, auch ihn möchte ich sorgsam wählen. Ich bin froh, dass ich meine Anlaufadressen hierfür gefunden habe.