Fatih Akin im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

«tschick», der Film – und die Angst vor der Freiheit

Nr 201 | September 2016

Es passiert in Zeiten des Internets nicht oft, dass Jugendliche genauso wie Erwachsene von einem aktuellen Roman begeistert sind, der in Klasse 8 bis 10 Schullektüre ist. Vielleicht weil es um etwas geht, das alle betrifft ... Wolfgang Herrndorf lässt in seinem Bestseller «Tschick» den vierzehnjährigen Maik mit viel Poesie und Humor von seiner abenteuerlichen Reise mit einem Klassenkameraden, dem russischstämmigen Tschick, erzählen. Tschick hat sich schon in der Schule nicht um die Erwartungen anderer gekümmert. Maik, der eigentlich nicht versteht, warum er mitmacht, wird von Tschick zur Fahrt in einem gestohlenen Auto in die Walachei animiert. – Fatih Akin, der Regisseur von «Soul Kitchen», «Auf der anderen Seite» und «The Cut», verfilmte nun «Tschick». Kinobesucher dürfen ab 15. September erleben, wie er die Geschichte der beiden Jugendlichen in Bildern einfängt, die unsere Sehnsucht «nach mehr» ansprechen können – nach mehr innerer und äußerer Freiheit, nach Naturerlebnissen, nach echter Freundschaft. Dafür muss man die gewohnten Gleise verlassen, die Angst vor der Freiheit überwinden.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Akin, in Ihrem auto­biografischen Buch Im Clinch sagen Sie, dass alle Ihre Filme ein spezifisches persönliches Thema haben. Wie ist es bei Tschick, was ist hier für Sie der innere rote Faden?
Fatih Akin | Es gibt viele Facetten im Roman, jeder Leser schaut letztlich individuell darauf. Für mich geht es ums Erwachsenwerden, das heißt: Freiheit zu gewinnen, vor allem die Freiheit zu sich selbst ? was nichts ist, das mit 18 abgeschlossen ist, sondern uns alle betrifft.
In Tschick haben die Jugendlichen Sehnsucht nach Freiheit, Maik gehen aber auch Ängste durch den Kopf: Wie muss ich mich verhalten, aussehen, um anerkannt zu werden, besonders von den Gleichaltrigen? Wenn man darüber nachdenkt, merkt man, dass Angst auch ein Thema von uns Erwachsenen ist ? vor Veränderungen, vor Neuem. Die Angst vor Flüchtlingen, die Angst, den beruflichen Anforderungen nicht zu genügen, die Angst vor dem Älterwerden, allein zu sein. Ich denke, hinter allem steht die eine Angst, nicht wahrgenommen, nicht geliebt zu werden. Die erste Angst, die wir als Neugeborene empfanden.

DKM | Wie kann man die Angst überwinden?
FA | Sich ihr stellen! Ich kann die Angst bewusst angehen, indem ich mich ihr stelle und mir sage: Ich lerne dich jetzt kennen! Wer bist du? Man setzt sich hin, denkt nach, redet darüber. In Tschick muss sich Maik durch Tschick, durch gemeinsame verrückte Erlebnisse immer wieder seiner Angst stellen, seiner Angst, nicht wahrgenommen zu werden, langweilig zu sein. Das ist die grundlegende zentrale Erfahrung von Maik im Buch: So, wie ich bin, genüge ich nicht. Das heißt auch, genüge ich mir selbst nicht. Oft gehen wir unbewusst mit unserer Angst um, die alltäglichen Gewohnheiten können ein Stück weit die Angst nehmen. Man lebt damit, richtet sich mit ihr im Alltäg­lichen ein, wie es Maik tat, bis er durch Tschick und die gemeinsame Fahrt freier wurde.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Die Gegenfigur zu Maik ist Tschick. Er hat kein Elternhaus hinter sich, wird in der Schule nicht anerkannt, was ihn aber nicht zu beeindrucken scheint, und ist stur, wenn er etwas will (wie den Kontakt zu Maik). Er denkt selbst, entspricht auch darin nicht den Erwartungen der Lehrer und hat den Mut, anders zu sein als die anderen – was für ihn das Normale ist.
FA | Ja, Tschick scheint total angstfrei zu sein. Maik und Tschick sind ja keine sich ergänzenden Persönlichkeiten, der Roman ist ganz aus der Sicht von Maik geschildert. Und Tschick scheint mehr zu wissen als Maik. Er scheint auch zu wissen, dass Maik ihn braucht. Das macht den Roman auch zu etwas Mythischem, denn da gibt es keinen ausgesprochenen Plan. Tschick ist wie der weise Medizinmann, der es im Lauf der gemeinsamen Erlebnisse und Herausforderungen schafft, Maik die Ängste und sich die Freiheit zu nehmen, weil sie ja jeden Augenblick da ist. So eine Art Medizinmann wie Tschick für Maik kann für uns Erwachsene auch ein Buch, ein Film, ein Satz aus einem Gespräch sein.
Im Film gibt es eine Szene, die für mich die spirituelle Dimension des Films zeigt: Sie fahren los, und Maik nimmt sein Smartphone und sucht nach dem Wort «Walachei», weil sie dorthin wollen. Tschick nimmt es ihm aus der Hand, wirft es weg, und es geht kaputt. Das heißt, er kann nicht mehr aus 20 Zentimeter Abstand und vollgepumpt mit Wissen auf die Dinge schauen, sondern nur das Original sehen – unmittelbar, im Augenblick: den Weg, den Berg, den Fluss, den Sonnen­untergang. Die beiden sind befreit von der Gefangenschaft der mechanisch-elektronischen Dinge. Frei, offen für das, was kommt.

DKM | Wie war es für Sie als Regisseur, mit jugendlichen Schau­spielern zu arbeiten?
FA | Ich habe Kinder, die aber noch klein sind, und hatte keine große Erfahrung mit Jugendlichen. Ich habe offen zu den Jugendlichen gesagt: Ich bin ein Erwachsener, aber nicht euer Freund, keine Vaterfigur und kein Kummerkasten – ich bin euer Regisseur, weil ich das Beste für meinen Film haben möchte. Sagt, wenn euch etwas nicht gefällt. Ich werde keine Rücksicht auf euer Alter nehmen, ich werde fluchen, rauchen, trinken, wie ich es auch sonst mache, und mich nicht euretwegen zusammen­reißen. Das fanden sie toll. Und deswegen konnten sie auch so sein, wie sie wollten, ihr ganzes Potenzial ausspielen. Das war ein gegenseitiges Verständnis, unser Deal: Ich verlange Freiraum für meine Arbeit, und ihr habt euren Freiraum. Das mag ich an dem Buch und am Film: Er ist würdevoll mit diesen Jugendlichen, ist auf Augenhöhe mit ihnen – und guckt nicht als Erwachsener auf die Jugendlichen, von oben herab, besserwisserisch oder Drolligkeit hervorhebend.

DKM | Was war für Sie bei den jugendlichen Schauspielern wichtig?
FA | Heranwachsende sind ja wie im «Dazwischen», keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen. Sie sind wie noch verpuppt, bevor sie Schmetterlinge werden – und solche Kids habe ich gesucht, die noch verpuppt sind, aber nicht so wonnemäßig wie kleine Kinder.
Zunächst habe ich für den Maik einen recht kleinen Schauspieler ausgewählt, von dem ich das Gefühl hatte, dass er mich berührt, der beste Schauspieler ist, Tristan Göbel. Eigentlich war er mit 13 noch zu jung, aber er strahlte so eine Kraft aus und hatte vor allem auch Erfahrung aus anderen Filmen. Und ich erinnerte mich, dass manchmal Heranwachsende in Extremsituationen plötzlich Schübe machen, quasi über Nacht (wie mein Bruder, der als schüchterner Junge zu einer Klassenreise losgefahren war und ganz anders zurückkam).
Und so ein Filmdreh ist eine Extremsituation, die der Seele, dem Körper alles abverlangt. Die Arbeit an sich, sieben, acht Wochen lang, ist prägend, man wächst damit. Ein Filmdreh ist wie eine Tätowierung, sie bleibt ein Leben lang. Und so einen Entwicklungsprozess haben wir auch bei Tristan während des Drehs erlebt.

DKM | Maik ist nicht mehr der Langweiler, als den er sich früher selbst erlebte, und kann, als er nach der Reise vor der Klasse bloßgestellt wird, innerlich anders damit umgehen, steht zu sich und zu Tschick, auch gegenüber seinem Vater und vor Gericht. Der Held des Films ist aber eigentlich Tschick, den Anand Batbileg spielt.
FA | Die Entwicklung von Tschick im Buch und Film zeigt sich an seiner Sexualität. Er hat sich über Schwule lustig gemacht und sich mit seinem Äußeren, etwas Assi-Mäßigen und den coolen Sprüchen lange verborgen. Er weiß, dass seine Seele etwas sehr Wertvolles ist, die er schützen muss. Aber ganz am Ende erzählt er Maik von seiner Homosexualität. Und ich glaube, dass er das kann, das verdankt er Maik. Als er sich ihm gegenüber offenbart, ist es auch ein Zeichen der Freundschaft. Genau die Beiläufigkeit, mit der das geschieht, ist wichtiger als manches andere im Roman.

DKM | Neben ein paar hilfreichen, eher unkonventionellen Erwachsenen, denen die beiden auf ihrer Reise begegnen, taucht auf einer Müllkippe Isa auf. Sie ist nicht so, wie man es von Mädchen erwartet: Sie ist ungepflegt, lässt sich nicht zurückweisen, ist aktiv und macht einfach, was sie spontan will.
FA | Ja, das ist ein anderes Frauenbild als üblich, wo man zuerst auf das Äußere schaut. Mich interessiert, jenseits der Geschlechtsrollen zu schauen, auf die Persönlichkeit. Im Film ist Isa eine junge Frau, 18, größer und muskulöser als der kleine Maik, der sich in sie verliebt. Das Buch geht anders mit der Beziehung um, unbestimmt. Mein Film ist da etwas näher am Leben, an meinem eigenen Erwachsenwerden als das Buch. Im Leben gibt es Trennungen, man weiß nicht, was morgen ist. Am Ende des Horizonts steht nicht ein Regenbogen, aber es muss auch nicht immer Regen sein. Es kann so sein. Es kann anders sein. Im Film wie im Leben.

DKM | In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie bei jedem ihrer Filme etwas anderes gelernt haben. Was ist es bei Tschick?
FA | Einfach machen! Das habe ich gelernt. Machen! Losfahren! So wie Maik und Tschick! Ich habe den Regieauftrag sehr kurzfristig angeboten bekommen, sieben Wochen vor Drehbeginn. Tschick ist ja ein großes Buch, fast eine «heilige Kuh». Normalerweise arbeite ich an der Vor­bereitung eines Films zwei Jahre, bevor ich drehe. Ich bin ein vorsichtiger Regisseur und überlege fünfzigmal, bevor ich etwas mache. Vieles hatte dagegen gesprochen – so kurzfristig, ich kenne die Leute nicht, ich produziere es nicht … Irgendwann habe ich Maik und Tschick in mir gehört: Setz dich ins Auto und fahr los! Du kennst das Ziel nicht genau, aber fahr los, handle. Der Weg ist das Ziel – das habe ich bei dem Film gelernt, absolut. Das ist kein Blabla. Es hat sich gelohnt.

DKM | Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft als Regisseur?
FA | Ich möchte so lange wie möglich Filme machen. Mit Leidenschaft. Jeden Film, den ich mache, bis ich sterbe, möchte ich mit Lust und Leidenschaft machen. Leidenschaft heißt für mich, das Bewusstsein zu haben, dass jeder Tag anders ist als der davor, und mich da offen mit allem, was ich bin, hineinzustellen.